Große Geschwister braucht das Land
Ayse, Turgut und Mustapha lauschen ihrer großen Schwester Semiha Çınar. Und das, obwohl die drei Schüler nicht verwandt sind mit der Frau. Abla, "große Schwester", ist die Studentin im übertragenen Sinne: Sie soll ein Vorbild sein für die drei türkischen Kinder aus der fünften und sechsten Klasse.
Es ist Nachmittag in der Neumark-Grundschule in Berlin-Schöneberg. Während ihre Mitschüler längst zu Hause sind, bekommen die drei Förderunterricht in Deutsch. Bei der ersten Pisa-Studie hatten die getesteten Schüler aus dieser Gegend der Stadt besonders schlecht abgeschnitten. Eine hohe Ausländerquote bereitet den Schulen Probleme.
Konkrete Hilfe sollen die drei Schüler in dieser Stunde beim Berichte schreiben bekommen. "Die sechs W-Fragen, wir hatten sie beim Feuerwehr-Besuch schon behandelt", sagt Semiha Çınar, "warum sind die so wichtig, Mustapha?" Der Junge mit dem freundlichen Gesicht zieht die Stirnfalten zusammen, reibt sich am Kinn und antwortet: "Wissen, in welcher Straße, welchem Stock es passiert ist, wie es geschah, wer ist beteiligt, ist die Person ansprechbar?" Lehrerin Çınar schaut streng, nickt und lässt die Schüler einen Zeitungsartikel vorlesen.
Mindestens eine Drei in Deutsch
15 Kinder bekommen jeweils zwei Mal pro Woche diesen Unterricht - seit anderthalb Jahren. Dabei helfen die Studenten ihren Schülern auch in Mathe, Biologie oder einfach in praktischer Lebenskunde. Die Schüler sind alle türkischstämmig, gehen in die vierte, fünfte oder sechste Klasse und haben mindestens eine Drei in Deutsch. Die Projektleiterin Nuran Aksoy erklärt, "wir haben es am Anfang auch mit Kindern versucht, die schlechte Zensuren hatten. Das hat aber nicht funktioniert. Die haben die ganze Gruppe runter gezogen."
Wie bei allen Mitarbeiter des Projektes ist "Agabey Abla" für Aksoy ein Nebenjob. Grundschulpädagogik, Lehramt oder Maschinenbau studieren die fünf unterrichtenden Vorbilder. Sie bekommen etwas Geld für ihre Arbeit, das Projekt bezahlt der Berliner Senat und eine Fördergesellschaft für das Viertel, in dem die Schule liegt.
Es geht nicht nur Zensuren
Der Leiter der Neumark-Grundschule, Ulf Schröder, ist froh, dass an seiner Schule dieses Projekt durchgeführt wird: "Als wir auf das Projekt angesprochen wurden, fanden wir es positiv, dass man Schülern über die Schule hinaus Wege zeigt, wie man sich kulturell in Berlin bewegen kann." Seine Schule ist in Berlin derzeit die einzige mit einem solchen Modell. Zu Leistungsfortschritten will er sich noch nicht äußern, "aber wichtiger als die Noten ist, dass die Kinder einmal über ihren Tellerrand hinaus schauen."
Das ermöglichen die Großen Geschwister den Schülern durch Ausflüge - zwei Mal im Monat. Für Projektleiterin Nuran Aksoy sind diese Touren ein wichtiger Aspekt des Modells: "Wir waren schon in vielen Museen, auf einem Kinderbauernhof oder im Zirkus. Das stärkt das Gruppengefühl. Außerdem muss ein Kind die anderen immer führen, den Weg finden. So lernen sie, sich in Bahnen und Bussen zurecht zu finden."
Ziel: Gymnasialempfehlung
Für die Studenten sind die Zensuren ihrer Schützlinge durchaus entscheidend. "Wir fangen schon in der vierten Klasse an, damit die Kinder die Chance haben, eine Empfehlung zumindest für die Realschule oder sogar fürs Gymnasium zu bekommen", sagt Nuran Aksoy. In Berlin geht die Grundschule in der Regel über sechs Klassen, im letzten Schuljahr geben die Lehrer eine Einschätzung ab, bei welchem Oberschultyp die Schüler am besten aufgehoben sind.
Türkische Kinder aus einem Berliner Problemkiez als Studenten in Deutschland. Dass das möglich ist, zeigen die Macher des Projektes: Die meisten von ihnen sind selbst genau in dieser Gegend zur Schule gegangen. Ob Ayse, Turgut oder Mustapha selbst einmal "große Geschwister" sein werden, wissen sie noch nicht. Einig sind sie sich nur beim Berufsziel: Alle drei wollen Polizisten werden.
Bericht vom 4.12.2004