"Großes Interesse am Erfolg der Regierung Morales"
24. April 2006DW-WORLD: Europa interessiert sich zurzeit wenig für Lateinamerika. Warum das Interesse für Bolivien?
Heidemarie Wieczorek-Zeul: Mitte Mai findet in Wien der EU-Lateinamerikagipfel statt, bei dem Staats- und Regierungschefs aus beiden Regionen zusammenkommen. Das dokumentiert schon, dass es in Europa ein waches und großes Interesse an Lateinamerika gibt, insbesondere daran, dass die Demokratie dort weiter an Stabilität gewinnt. Bolivien ist das ärmste Land in Südamerika und auch deshalb eines der wichtigsten Partnerländer der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Mit der Wahl von Evo Morales zum ersten indigenen Staatspräsidenten hat es in Bolivien einen historischen Wechsel gegeben. Es gibt die Chance, dass die neue Regierung eine entschlossene Politik zur Bekämpfung der Armut vorlegt, die wir konstruktiv begleiten wollen.
Welche geopolitische Bedeutung haben die Gasreserven in Bolivien?
Bolivien verfügt über die zweitgrößten Gasreserven in Südamerika, die für die entwicklungspolitischen Perspektiven des Landes von großer Bedeutung sind. Ich finde es wichtig, dass der natürliche Reichtum Boliviens stärker als in der Vergangenheit für die Entwicklung und besonders für Armutsbekämpfung eingesetzt wird.
Ist Evo Morales ein Populist oder ein Demokrat mit Ideen für die Zukunft des Landes? Droht eine internationale Isolierung des Landes?
Evo Morales ist mit 54 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt worden und hat eine breite Unterstützung im Land und die Mehrheit im Parlament. Er ist gewählt worden, weil die Menschen in ihm den Träger eines umfassenden politischen Wandels sehen, der zu mehr Teilhabe besonders der bisher marginalisierten indigenen Bevölkerungsgruppen am politischen und wirtschaftlichen Leben führen soll. Ich habe bei Gesprächen während dieser Reise festgestellt, dass die Gebergemeinschaft ein großes Interesse daran hat, dass die Regierung von Morales Erfolg hat und sich die politische Lage in Bolivien weiter stabilisiert.
Was halten Sie von der Hochkonjunktur des "Indigenismo" in Lateinamerika? Chance oder Gefahr der Radikalisierung?
Die indigene Bevölkerung bildet in einigen Ländern Lateinamerikas die Mehrheit der Bevölkerung - so auch in Bolivien. Und man muss ebenfalls sehen, dass diese Bevölkerungsmehrheit in der Vergangenheit in vielerlei Weise von der Entwicklung ausgeschlossen war. Ich finde, die indigene Bevölkerung fordert zu Recht die Anerkennung ihrer kulturellen Identität und die Möglichkeit zu einem Leben in Würde. Ich sehe eine große Chance, dass das soziale und kulturelle Kapital der Indigenen in Bolivien und auch in anderen Ländern ein positiver Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaften sein kann, von denen sie ein integraler Bestandteil sein müssten. Radikalisierung entsteht nur dann, wenn sich die Ausgrenzung nicht überwinden lässt.
Wie stehen Sie zur so genannten Neuen Linken Lateinamerikas: Bilden Morales, Chavez, Humala und Castro eine neue Allianz?
Es lohnt sich, hier zu differenzieren: Zur neuen lateinamerikanischen Linken würde ich schließlich auch die chilenische Präsidentin Bachelet zählen und Brasiliens Staatsoberhaupt Lula. Ich sehe die große Gemeinsamkeit vor allem darin, dass sich die Menschen in Lateinamerika bei den Wahlen in ihren Ländern für eine Politik des sozialen Ausgleichs jenseits des Washington Consensus entschieden haben.
Welche Bedeutung messen Sie der Verfassungsgebenden Versammlung in Bolivien bei?
Der Erzbischof von la Paz, Edmundo Abastoflor, hat mir im Gespräch dazu gesagt, der Prozess zur Verfassungsgebenden Versammlung sei wie eine Art Identitätsfindung für Bolivien. Ich finde das sehr passend, denn durch die breite Beteiligung gerade auch der indigenen Bevölkerung entsteht die Chance zu einem neuen gesellschaftlichen Konsens, wie zukünftig Konflikte beigelegt werden können.
Morales will den Anbau der Kokapflanze legalisieren. Viele Bolivianer leben vom Anbau, wirkliche Alternativen sind nicht gefunden. Drückt die Bundesregierung da ein Auge zu und lässt Morales gewähren?
Wir wollen die Kokabauern nicht kriminalisieren. Aber unsere Position ist ganz klar: Wir erwarten von der bolivianischen Regierung, dass die Ausweitung der Produktion von Koka unterbunden wird. Und: Evo Morales hat mir ausdrücklich zugesichert, dass auch seine Regierung jeden Kokainhandel ablehnt und bekämpft.
Was halten Sie von der Politik der USA, die Felder mit der Kokapflanze zu vernichten?
Wir verfolgen mit der deutschen Entwicklungszusammenarbeit einen anderen Weg, indem wir Bauern Alternativen zum Kokaanbau eröffnen möchten. Ein wichtiger Teil unserer Zusammenarbeit mit Bolivien richtet sich auf Entwicklungsmaßnahmen in den armen Gebieten, deren
Bewohner in der Vergangenheit häufig keine andere Möglichkeit gesehen haben, als in den Kokaanbau abzuwandern. Damit haben wir Erfolge erzielt, und diesen Weg möchten wir zusammen mit der bolivianischen Regierung weiter gehen.