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Indisches Weltliteraturkonzept

Priya Esselborn 10. April 2013

Seine Erfolgsgeschichte hat selbst das Zeug zum Bestseller: Naveen Kishore gründete in Kalkutta einen Verlag, der mit Übersetzungen aus dem Deutschen weltweit Aufsehen erregt. Nun hat er die Goethe-Medaille erhalten.

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Porträtbild von Naveen Kishore, Gründer des Verlags "Seagull Books" Foto: Sunandini Banerjee
Der indische Verleger Naveen KishoreBild: Sunandini Banerjee

Naveen Kishore ist ein Mann mit vielen Talenten. Der 60-Jährige ist Verleger und Journalist, seit jungen Jahren dem Theater verfallen, ein weit gereister Freigeist und Revolutionär im Literaturbetrieb, der sich auch um die Förderung des Verlegernachwuchses bemüht. In dreißig Jahren hat Kishore Seagull Books, sein kleines Verlagshaus mit gerade mal neun Mitarbeitern, zur ersten Anlaufstelle für englischsprachige Übersetzungen auch von deutschsprachigen Autoren gemacht. Doch gerade am Anfang musste Naveen Kishore mit vielen Vorurteilen kämpfen.

Dass Seagull Books aus einem 15-Millionen-Moloch wie Kalkutta operierte, wurde außerhalb Indiens erst mit minderwertiger Qualität gleichgesetzt, erzählt Kishore. Dabei gilt Kalkutta innerhalb Indiens seit jeher als ein kulturelles und intellektuelles Zentrum. "Damals war es natürlich eine andere Zeit, unsere Technik war noch nicht auf dem Stand wie heute. Wir mussten vom ersten Tag beweisen, dass wir auf allerhöchste Qualitätsstandards setzen. Und genau diese hohe Qualität unserer Arbeit war es auch, die uns schnell Aufmerksamkeit brachte."

Menschenmassen tummeln sich in Kalkutta unter freiem Himmel auf der landesgrößten Buchmesse. Copyright: DW/Prabhakar Mani Tewari
Die größte Buchmesse Indiens gibt es in KalkuttaBild: DW/P. Mani Tewari

Nischenprodukt wird massentauglich

Naveen Kishores Leidenschaft war und ist das Theater. Dort arbeitete er lange Jahre als Lichtdesigner. Seagull Books konzentrierte sich in seinen Gründerjahren vornehmlich auf die Bereiche Theater, Film, Kunst und Musik. "Jeder lobte unsere Arbeit, aber im großen Literaturbetrieb konnten wir nur eine kleine Nische besetzen", erinnert sich Kishore. "Deshalb weiteten wir unser Feld aus. Wir veröffentlichten Werke zu anthropologischen Studien oder Kulturdebatten. Wir arbeiten eng mit unseren Künstlern zusammen, stellten zum Beispiel für Fotografen den Kontakt zu Galerien her, versuchten also durch Events mit den Künstlern eine Art ganzheitliches Konzept zu schaffen." Bis 2005 erschienen so im Seagull Verlag um die 400 Bücher.

Im selben Jahr beobachtete Kishore, wie immer mehr große ausländische Verlagshäuser ihr Glück in Indien suchten. Sie sahen Potential im Land. Kishore entschied sich, genau den umgekehrten Weg einzuschlagen. Sein ambitioniertes Ziel: selbst um die Welt reisen und im engen Kontakt mit den Agenten nach geeignetem Material für eine weltweite Veröffentlichung suchen. Dafür eröffnete er zwei Zweigstellen von Seagull Books - in London und New York.

Faszination für europäische Literatur

"Ich hatte immer das Gefühl, dass deutsche und französische Poesie, Philosophie und Literatur in mir einen Raum der Hoffnung erschaffen, nicht aus politischer oder wirtschaftlicher Sicht, sondern als eine Art literarischer Wert." Britische und amerikanische Verlagshäuser hätten lange deutsche Autoren veröffentlicht und so habe er in seiner Jugend viele dieser Werke gelesen. "Irgendwann schien dies aber kommerziell nicht mehr profitabel zu sein", bedauert Kishore. "So entstand die Zusammenarbeit mit Gallimard in Frankreich und dem Suhrkamp-Verlag in Deutschland" und damit auch die französische und deutsche Liste von Titeln des Seagull Verlags. Dann folgten auch andere Kooperationspartner wie Chicago University Press. Kishores besonderes Verhandlungsgeschick, Fingerspitzengefühl und die Beharrlichkeit machte das möglich. Seine Arbeit entwickelte sich zu einer Brücke zwischen Ost und West.

Cover des Seagull-Buches "Gentle Monster Brussels Or the Dienfranchisement of Europe" von Hans Magnus Enzensberger
Seagull Books vertreibt Bücher von EnzensbergerBild: Seagull Books

Heute ist Seagull Books mit einigen hundert veröffentlichten Werken deutscher Autoren in englischer Übersetzung der größte Anbieter deutschsprachiger Literatur weltweit. Viele Werke erscheinen erstmalig oder sind durch Seagull Books nach langer Zeit wieder verfügbar. Kishores Bandbreite der veröffentlichten Autoren von Weltruhm ist beeindruckend, nach Länderlisten oder ambitionierten Serien sortiert. Sie reicht vom chinesischen Nobelpreisträger Mo Yan, der von Seagull Books schon 2010 als Teil einer Serie von Autoren aus kommunistisch geprägten Staaten veröffentlicht wurde, zu Hans Magnus Enzensberger, Heiner Müller, Peter Handke, Max Frisch und Theodor W. Adorno bis hin zu Sergei Eisenstein, Jean Paul Sartre, Rabindranath Tagore oder Pablo Picasso.

Globales Konzept

"Mir geht es nicht darum, jemanden wie Enzensberger einem indischen Publikum bekannt zu machen. Es geht mir nicht um eine bestimmte Nation, sondern darum, Weltliteratur der internationalen Leserschaft zugänglich zu machen", beschreibt Kishore sein Konzept. Keiner könne vorhersagen, ob ein Buch Erfolg haben werde oder nicht, selbst wenn ein Autor zwei Millionen Dollar als Vorschuss erhalte, so Kishore weiter. "Uns geht es nicht um kommerziellen Erfolg und Profit, sondern um Offenheit und Flexibilität. Wir wollen uns nicht festlegen lassen. Die ersten Autoren, die ich herausbrachte, waren die, die ich selbst gelesen hatte. Und Erfolg bedeutet für uns, die Dinge machen zu können, die wir wollen."

Eine junge Frau stöbert in einem Bücherregal. Copyright: DW/Prabhakar Mani Tewari
Indiens erfolgreiches WeltliteraturkonzeptBild: DW/P. Mani Tewari

Dabei ist Kishore sein menschliches Umfeld extrem wichtig. Bei der Auswahl von Autoren bezieht er sein Team mit ein, fragt seine Übersetzer, welche Autoren sie gerne veröffentlicht sehen wollen. Nichts hasst Kishore mehr, als mitansehen zu müssen, wie viele Verlagshäuser Werke nach drei bis sechs Monaten aus dem Programm nehmen, um sie durch mit großem Tamtam angekündigte Neuveröffentlichungen zu ersetzen. Ausrangierte Werke müssten sich die Leser dann mühsam in Online-Buchhandlungen zusammensuchen.

Digitale Welt

Dabei ist Kishore auch fasziniert von den Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet. "E-books oder bestimmte Apps sind keine Gefahr für die Literatur oder mich. Vielleicht werden unsere Kinder, nicht das Gefühl von Papier, die Handlichkeit eines Buchs in der Form kennen, wie wir. Aber sie werden trotzdem lesen", betont Kishore. Im Dezember, so hofft er, soll eines seiner neuen Experimente auf den Markt kommen. Ein ganz normales Buch, in das aber eine Technologie eingebettet wurde, mit der User über ihre Smartphones in eine literarische Diskussion über Leben und Werk des Autors eintauchen können: "Das ist doch faszinierend", sagt Kishore begeistert.

Buchttiel von Ralf Rothmanns "Fire Doesn´t Burn" im Seagull Verlag
So sieht Ralf Rothmanns Buch im Seagull-Verlag ausBild: Seagull Books

Seine Überzeugungen und seine langjährige Erfahrung versucht Kishore auch dem Nachwuchs in einer sechsmonatigen Weiterbildung in Lektorat, Produktion und Design an seiner Schule für angehende Verleger weiterzugeben. Der dritte Jahrgang steht inzwischen in den Startlöchern. Daneben unterhält Kishore auch eine Kunststiftung. Und so scheint es, dass er seinem Namen alle Ehre macht. Denn der indische Name "Naveen" bedeutet "Neues."