"Nordsyrien-Konflikt ist lange nicht beendet"
21. Oktober 2019Nachdem die USA ihre Truppen aus dem Gebiet zurückgezogen hatten, begann die Türkei am 9. Oktober ihren Einmarsch in Nordsyrien. Ihr Ziel: Eine "Sicherheitszone" in Nordsyrien einzurichten in dem Gebiet, das zuvor von Kurden kontrolliert wurde. Die Türkei betrachtet die Kämpfer der Kurdenmiliz YPG - Partnerin der USA im Kampf gegen den "Islamischen Staat" - als Terrororganisation. Die Offensive wird von der Regierung in Ankara als Selbstverteidigung gerechtfertigt. International wurde der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan für dieses Vorgehen stark kritisiert. Trotz einer vereinbarten Waffenruhe gab es in den vergangenen Tagen Gefechte. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft der Türkei Kriegsverbrechen vor, darunter "rücksichtslose Angriffe auf Wohngebiete". Insgesamt wurden bislang etwa 500 Menschen bei der Offensive getötet, darunter mindestens 72 Zivilisten. Fragen dazu an den Nahost-Experten Guido Steinberg.
Deutsche Welle: Herr Steinberg, die kurdischen Kämpfer wollen sich nun aus einer Zone zwischen Ras al-Ain und Tall Abjad ins Landesinnere zurückziehen. Geht es nach der Türkei, soll die Räumung bis Dienstag abgeschlossen sein. Die Kurden definieren den Umfang der türkischen Sicherheitszone jedoch anders als die Türkei. Steht der eigentliche territoriale Konflikt zwischen den Kurden und der Türkei somit erst noch bevor?
Guido Steinberg: Ja, es ist durchaus möglich, dass nach dieser Waffenpause von fünf Tagen der Konflikt neu beginnt. Die kurdischen und türkischen geografischen Angaben weichen weit voneinander ab. Die Kurden gehen davon aus, dass es um den Gebietsstreifen zwischen Tall Abjad und Ras al-Ain geht, während die Türken immer noch von der gesamten türkisch-syrischen Grenze zwischen dem Euphrat und dem Irak ausgehen. Wenn die türkische Regierung ihre Aussage ernst meint, dann müssen wir davon ausgehen, dass die Offensive in den nächsten Tagen wieder an Fahrt gewinnt.
Ist der Abzug der kurdischen Kämpfer allein militärisch von Bedeutung oder kann man darin bereits den Beginn einer ethnischen Vertreibung der Kurden aus dem Gebiet erkennen?
Zunächst einmal glaube ich, dass die von den Kurden angeführten SDF, also die Syrisch Demokratischen Kräfte, gut beraten sind, den Türken auszuweichen. Es ist deutlich, dass sie zumindest den regulären türkischen Truppen nichts entgegenzusetzen hat. Eine ethnische Vertreibung kann ich noch nicht beobachten. Dazu könnte es aber kommen, denn viele Kurden im Grenzgebiet haben große Angst vor der Machtübernahme der Türkei und besonders vor den syrischen Milizen, die mit den Türken zusammenarbeiten. Ich gehe davon aus, dass die meisten Kurden zumindest Ras al-Ain verlassen werden und andernfalls massiv drangsaliert werden.
Kann man denn überhaupt zwischen den kurdischen Kämpfern und der kurdischen Zivilbevölkerung unterscheiden?
Im Großen und Ganzen kann man sie durchaus auseinanderhalten. Die kurdischen Kämpfer sind eine semi-reguläre Truppe. Sie operieren meist in Uniformen und den dazugehörigen Kennzeichnungen, aber es ist durchaus möglich, dass sie diese im Straßenkampf aufgeben. Das Problem ist, dass zumindest die syrischen Hilfstruppen der Türkei da nicht trennscharf unterscheiden. Jeder Kurde, der ergriffen wird und der im wehrfähigen Alter ist, muss auch mit Repressalien bis hin zur Ermordung rechnen. Wir haben vor einigen Tagen schon erlebt, dass syrische Hilfstruppen der Türkei unbewaffnete Gefangene und auch Frauen getötet haben.
Den Vereinten Nationen zufolge mussten bereits mehr als 165.000 Menschen aufgrund der Kämpfe ihre Heimatorte verlassen. Müssen sich benachbarte Länder auf eine große Anzahl von Flüchtlingen einstellen?
Der Konflikt ist noch lange nicht beendet, somit müssen wir mit einer Zunahme der Flüchtlingszahlen rechnen. Die große Frage ist, inwieweit es der Türkei gelingt, auch weiter östlich Grenzgebiete einzunehmen. Dort haben wir die große Stadt Qamischli und andere Siedlungsgebiete der Kurden, in denen mehr Menschen leben als in Ras al-Ain und Tall Abjad. Wenn die Türken dort einmarschieren, müssen wir mit mehreren hunderttausend Flüchtlingen rechnen, die vor allem Richtung Süden und in den Irak fliehen werden.
Russlands Präsident Wladimir Putin empfängt am Dienstag den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan in Sotschi. Anders als der Westen zeigt die Führung in Moskau Verständnis für die Forderung der Türkei nach einer Sicherheitszone auf syrischem Gebiet. Die USA und Europa scheinen keinen Einfluss auf Erdogan zu haben. Könnte Russland das schaffen?
Die Russen haben in jedem Fall Einfluss auf Präsident Erdogan. Wir können mittlerweile seit Jahren beobachten, dass die Türkei gemeinsam mit Russland über das Thema Syrien redet. Russland ist nach dem Abzug der USA die einzig verbliebene Großmacht in Syrien. Erdogan wird diesen Machtzuwachs Putins an diesem Dienstag auch zu spüren bekommen. Es ist die Frage, inwieweit Russland tatsächlich ein Interesse daran hat, die türkische Offensive aufzuhalten. Ich kann mir gut vorstellen dass der Expansionsdrang der Türkei zumindest im Westen der geplanten Sicherheitszone am russischen Widerstand scheitern wird. Die Städte Kobane und Manbidsch werden also vermutlich ein wichtiges Thema werden.
Die Türkei droht, bei zu starker Kritik am türkischen Militär die Grenze nach Griechenland zu öffnen. Ist das eine ernst zu nehmende Drohung, die der EU Sorgen machen sollte?
Erdogan hat ja schon vor einigen Wochen durch eine kurzzeitige Öffnung der Grenze klar gemacht, dass er seine Politik jederzeit ändern kann. Er hat einen Großteil der sechs Milliarden Euro, die ihm von der Europäischen Union zugesagt wurden, erhalten. Aus seiner Sicht wäre es jetzt ein guter Zeitpunkt, der EU zu zeigen, dass er Druck ausüben kann. Solange die EU keine eigene wirksame Grenzsicherung entwickelt, bleibt sie erpressbar. Ich gehe davon aus, dass die Türkei nur dann keine Flüchtlinge schicken wird, wenn die Europäische Union zumindest bereit ist, mehr Geld zu bezahlen.
Guido Steinberg ist Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Von 2002 bis 2005 war er Referent für internationalen Terrorismus im Bundeskanzleramt.
Das Gespräch führte Nermin Ismail.