Chinas ethnischer Sozialismus
1. Oktober 2020Gerade dieser Tage wurde bekannt, dass China vielen tausend Menschen in Tibet Zwangsarbeit aufbürdet. Seit der Annexion des buddhistischen Berglandes im Jahr 1950 hat die Volksrepublik wenig unversucht gelassen, Tibet zu isolieren und seine kulturelle Eigenständigkeit zu eliminieren. In der freien Welt ist die Person des Dalai Lama das weltreisende Symbol für Chinas Tun. Gleichwohl haben wir uns damit in all den Jahrzehnten arrangiert.
Nun kann aber nicht länger ignoriert werden, dass die kommunistische Führung unter Xi Jinping, der, anders als seine Vorgänger, eine ethnische Interpretation des chinesischen Sozialismus vornimmt, Minderheiten an vielen Stellen in dem riesigen Land diskriminiert und unterdrückt. Gerade vor wenigen Wochen kam die erschreckende Nachricht aus der Inneren Mongolei, dass dort die kulturelle Eigenständigkeit der Mongolen massiv eingedämmt werden soll.
Eine Million Menschen in Konzentrationslagern
All das wird allerdings durch die Gräuel in den Schatten gestellt, die China in Xinjiang verübt. Dort sind mehr als eine Millionen Menschen aufgrund ihrer Ethnie und Religion in Konzentrationslagern eingesperrt. Die Berichte reichen von Gehirnwäsche bis zu erzwungenen Abtreibungen. Im Kongress der USA ist man deshalb mittlerweile soweit, das vorgehen in Xinjiang als Genozid einzustufen.
In Xinjiang, der Inneren Mongolei und in Tibet haben die Menschen, die das Land von jeher bewohnen, eine andere Ethnie als die Mehrheit, die als Han-Chinesen bezeichnet werden. Allen 56 Ethnien in China stand, bis Präsident Xi ab 2012 in höchste Ämter gelangte, vor dem Gesetz Gleichheit zu. Damit hat Xi Jinping aufgeräumt, der sich im Jahr 2023, wenn alles schief läuft, zum Präsidenten auf Lebenszeit küren lassen wird.
Auch Hongkong ist zum Teil ein ethnischer Konflikt
Auch die Hongkonger sind keine Han-Chinesen, sondern Kantonesen, also ebenfalls eine andere Ethnie. Der Furor Pekings, mit dem die in internationalen Verträgen verbriefte Eigenständigkeit der Stadt und damit verbunden die Rechte aller Einwohner planiert wurden, lässt sich zum Teil sicher auch auf die ethnische Politik zurückführen, die Xi und seine Nomenklatura macht. In der freien Welt hat man nicht verstanden, warum Peking nicht einfach bis 2047 gewartet hat. In diesem Jahr würde das "Ein Land, zwei Systeme", das Hongkong demokratische Rechte zugesteht, ohnehin auslaufen. China hätte dann gewonnen.
In der Volksrepublik geht es aber in diesem Punkt nicht um rationale Politik, sondern um Ideologie, die von einem Primat, einer Vormachtstellung der Han gegenüber den anderen Ethnien ausgeht. Die Menschen auf der anderen Vertragsseite, in diesem Falle Hongkong, Tibet, die Innere Mongolei und Xinjiang, werden nicht partnerschaftlich wahrgenommen. So erklärt sich das unmenschliche Verhalten, das die KP gegenüber den Menschen an den Tag legt, die doch eigentlich alle Bürger Chinas sind.
Ausnahmefall Taiwan
Einzige Ausnahme bildet hier Taiwan. Das demokratische Land, das aus dem Bürgerkrieg der Republik mit den revolutionierenden Maoisten hervorgegangen ist, wird von 23 Millionen Menschen bewohnt, von denen eine große Mehrheit Han-Chinesen sind. Vielleicht zögert die Volksrepublik mit einem Angriff auf den Inselstaat deshalb, weil ein solcher von den Militärs als Neuauflage eben jenes Bürgerkriegs verstanden werde würde, der er vor mehr als 70 Jahren einmal war.
Das eigentliche Problem, das Xi Jinping mit dem demokratischen Taiwan hat, ist, dass dort Millionen Menschen erfolgreich und glücklich in einer freien Demokratie leben - eine Daseinsform, von der der chinesische Präsident behauptet, dass sie Chinesen aufgrund ihres kulturellen Erbes fremd sei. Von einem Genozid an den Taiwanern kann nicht die Rede sein, dazu müsste China erst einmal die Insel besetzen. Xi hat das bereits mehrfach angedroht. Da die USA eine Art Sicherheitsgarantie für die Inselnation abgegeben haben, von der allerdings unklar ist, ob sie auch die Kriegsoption einschließt, hält sich der Taiwan-Konflikt in einer gewissen Schwebe. Es ist völlig klar, dass, sollte es zu einer Invasion der Volksrepublik auf Taiwan kommen, die dortige freiheitliche Kultur und Demokratie ebenfalls ausgelöscht werden würde.
Fünf Genozide
Xis China hat somit fünf Genozide auf der Uhr, die in unterschiedlichen Stadien ihrer Vollendung entgegen laufen. Jedem in der freien Welt muss das Blut in den Adern gefrieren, wenn er oder sie sich das vor Augen führt. Die Diskussion, wie wir künftig mit China umgehen wollen, kommt daher keinesfalls verfrüht.
Es scheint ja, leider, dass die Aufnahme der Volksrepublik in den Reigen der zivilisierten Welt, die nach dem Horror der Kulturrevolution vor allem unter dem Eindruck der Erfolge des Reformers Deng Xiaoping bereit war, ein neues Kapitel mit dem Land aufzuschlagen, im Nachhinein ein Fehler war. "Ein Land, zwei Systeme" ist tot, ebenso die "Ein China"-Politik, die in dem Moment zu Grabe getragen wurde, als Peking seine Kriegsdrohungen Richtung Taiwan ausstieß. Unter Xi Jinping ist das Land ist nicht mehr eine Hoffnung für die Weltwirtschaft, sondern die Bedrohung für den Weltfrieden.
Alexander Görlach ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hongkong.