In Geiselhaft der Radikalen
1. Oktober 2019Das Ringen um Identität, das derzeit weltweit zu beobachten ist, zeigt eine Schwachstelle auf in unserer Vorstellung von Demokratie: Die Lehrbücher gehen davon aus, dass gute Bildung die Grundlage für wirtschaftliches Vorankommen ist. Innerhalb einer Generation, so geht die Erzählung weiter, führt bessere Bildung zu einer höher entwickelten Wirtschaft. Mit dieser Entwicklung geht einher, dass sich die Menschen für ihre Rolle im Gesamtgefüge interessieren, also politisch zu denken beginnen. Politisch ist in diesem Sinne weit gefasst: Es heißt nicht notwendigerweise, dass sie Parteiprogramme lesen oder wählen gehen. Gemeint ist, dass sie sich ihrer selbst bewusst werden.
Dieses Bewusstsein verdichtete sich im konservativen Spektrum im Bürgertum, im linken Spektrum zur Arbeiterklasse. Beide sind sich so unähnlich nicht: Anhänger beider Gruppen ziehen aus dem Erwachen ihres politischen Bewusstseins Schlüsse für ihr Weltbild und bauen darauf die politischen Ideen, die sie in das demokratische System einspeisen. Beide, sowohl das bürgerliche wie das sozialdemokratische Denken, haben weltumspannende Bezüge: Die einen nennen es Kosmopolitismus, die anderen die Internationale der Arbeiterklasse.
Verzwergung der großen Konzepte
Wir leben in einem geschichtlichen Moment, in dem sich diese großen Konzepte verzwergt haben. Die britische Labour-Partei kann sich nicht dazu durchringen, an der Seite der kontinentaleuropäischen Sozialdemokraten den Brexit abzuwenden. Einst bürgerliche Konservative wie der heutige Frontmann der rechtspopulistischen AfD, Alexander Gauland, verbarrikadieren sich auf kleinsten mentalen Parzellen. Niemand wird behaupten wollen, dass Jeremy Corbyn oder Alexander Gauland (diese Namen stehen hier nur pars pro toto) einen Mangel an Bildung oder ökonomisches Abgehängtsein zu beklagen hätten. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Was also ist hier am Werk, das die Lehrbücher bis lang nicht genügend in ihre Theorie einbezogen haben?
Keines der beiden genannten politischen Konzepte, die im 20. Jahrhundert so wirkmächtig waren, hat es geschafft, ein auf Trennung und Polarisierung abzielendes Gruppendenken abzuschaffen. Was bedeutet es denn, dass wir heute in einem Zeitalter der Identität leben? Identität prägt sich - das weiß die Sozialpsychologie - stets in Abgrenzung zu Anderen aus. Schon im frühen Kindesalter lässt sich dies beobachten. Einige folgern daraus, dass sich diese Form der Gruppenbildung gegen einen äußeren Feind (die Natur, einen andere Menschengruppe) als ein Vorteil im Wettbewerb, also evolutionsbiologisch, erklären lasse.
Vieles spricht für die Richtigkeit dieser These. Das Prädikat "Weitsichtig" verdient daher Thomas Hobbes' Terminus vom "Krieg aller gegen alle", den er in seinen Schriften konstruiert. Er besagt, dass sich im Naturzustand alle gegenseitig bekämpfen, solange sie in einem auf Wettbewerb zielenden Gruppenmodus verhaftet bleiben. Am Beginn der modernen Vergesellschaftung steht also die Einwilligung aller, auf ein auf Vernichtung gerichtetes Kräftemessen ("Krieg"), nicht nur der Einzelnen, sondern auch der Gruppen gegeneinander, zu verzichten. Das System, in dem das verstanden wurde, nennen wir heute "liberale Demokratie". Sicherlich, auch in der liberalen Demokratie wird gekämpft: Aus jeder Wahl geht eine Gruppe als Sieger und eine andere als Verlierer hervor. Dem Gewinner werden jedoch nicht die Rechte der Verlierer als Kriegsbeute gleichsam vor die Füße gelegt, sondern nach der Wahl ist vor der Wahl. Und im politischen Ringen begegnen sich alle immerwährend als Gleichberechtigte.
Ungleichheit wieder salonfähig machen
Unser Zeitalter der Identität ist leider eines, das Ungleichheit und Unterjochung des Andersdenkenden wieder salonfähig machen möchte. Das Gerede derer, die sich im Namen der Identität heute allerorten aufspielen, richtet sich daher völlig im Sinne des Naturzustands gegen die Schwächeren, gegen die Minderheiten. Das Ziel ist, sie mundtot zu machen. Bisweilen wird auch ihr physischer Tod in Kauf genommen, wie am Beispiel der Flüchtlinge, die im Mittelmeer kentern, zu sehen ist.
Wir haben es daher auch mit mehr als einem "Populismus" zu tun. Denn so zu sprechen und zu vereinfachen, dass es das sogenannte einfache Volk versteht, ist ja nicht automatisch menschenverachtend. Um das zu verdeutlichen: In einem guten Sinne ein Populist ist Papst Franziskus, der von der Lebenswirklichkeit seiner Heimat gewohnt ist, zu den Gläubigen in einfachen Bildern zu sprechen. Das kann zu Verwirrung und auch zu Enttäuschung führen. Aber herzlos ist der Populismus des Papstes mit Sicherheit nicht. Wenn hingegen der frühere italienische Innenminister Salvini Seenotrettung als Terrorismus bezeichnet, dann ist das abgrundtief menschenverachtend.
Populismus, das lehren die Textbücher, ist keine Ideologie, sondern eine Rhetorik, eine Technik zur Vermittlung einer Ideologie. Die "Identitäten" unserer Zeit geben sich daher verschiedene Namen: Donald Trump zum Beispiel ist stolz darauf, sich "Nationalist" zu nennen. Dies ist - was man in Europa nicht automatisch weiß - eine Anspielung auf den Isolationismus, den die USA bis zum Ersten Weltkrieg gepflegt haben. Diese Form von Isolationismus bedeutete für etliche US-Amerikaner, eine weiße Nation allein für die weiße Rasse zu sein. Wohin rassistische Überlegenheitsfantasien an vielen Orten der Welt, besonders in Deutschland, geführt haben, ist bekannt. Und trotzdem feiert diese rassische Raserei fröhliche Urständ.
Evolution schlägt Bürgertum und Arbeiterklasse
Bürgerlicher Kosmopolitismus und die internationale Arbeiterklasse gingen und gehen davon aus, dass Gruppen sich Gemeinsames über Länder- und Kulturgrenzen hinaus erschließen können. Aber das reicht nicht aus, um den durch die Evolution transportierten Drang zu überwinden, über anderen Gruppen zu stehen und sie unterjochen zu wollen. Es wird daher nicht genügen, die multilaterale Ordnung und die Institutionen der Zusammenarbeit, die im 20. Jahrhundert gewachsen sind, zu beschwören. Sie waren, sind und bleiben gut und richtig, das Beste, was wir bis dato zustande gebracht haben. In der Arbeit dieser Institutionen muss es aber darum gehen, zu vermitteln und, so technokratisch das auch klingen mag, administrativ zu untermauern, den Naturzustand in unseren Köpfen endgültig zu überwinden.
Der wahre Feind sind dabei nicht die Identitäten! Der Widersacher ist eine bestimmte Form von Gruppenbildung, die in Abgrenzung und im schlimmsten Fall Ausrottung der Anderen münden. Da diese Tendenz unabhängig von kulturellen Identitäten vorkommt - also gleichermaßen in der christlichen, der islamischen, der hindu- und der buddhistischen Welt - leistet bereits die Behauptung, dass eine bestimmte Identität unter Beschuss durch eine andere sei, einer Ausgrenzung Vorschub. Unsere Lehrbücher haben unterschätzt, wie stark der Drang nach Abgrenzung und Herabwürdigung der anderen unter der Oberfläche der Demokratie wirklich geblieben ist. Bildung alleine genügt nicht, um diesen Ballast unserer archaischen Vergangenheit hinter uns zu lassen. Zuallererst muss dafür die Identität aus der Geiselhaft der Radikalen befreit werden.
Alexander Görlach ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hongkong.