Görlach Global: Religion stiftet Identität
30. April 2019Wenn die Führung der kommunistischen Partei Chinas in Tibet und Xinjiang alte Tempel und Moscheen zerstören und überall im Land Kirchen sprengen lässt, dann sehen wir erschreckende neue Beispiele dafür, wie sehr die Identität von Menschen angegriffen und letztlich zerstört werden soll. Wer Tempel und Moscheen, also Kulturdenkmäler, anzündet, schreckt am Ende auch nicht davor zurück, die Menschen anzuzünden, die darin beten.
Das Gotteshaus als kulturelles Symbol
Dabei geht es nicht in erster Linie darum, die Religionsausübung zu unterbinden, sondern die Identitäten zu unterdrücken, die mit religiösen Kulturen verbunden sind. Wenn die Spuren dieser Kulturen zerstört sind, sollen die so Erniedrigten lernen, mit einer anderen, einer vermeintlich überlegenen Kultur zu leben - im Falle Chinas der Han-chinesischen Leitkultur, die Führer Xi propagiert. Das Unrecht, das so den entrechteten Menschen angetan wird, ist immens. Sie werden nicht nur individuell getroffen, sondern kollektiv. Die Zerstörung trifft den einzelnen ins Herz, und die Gruppe als Ganzes.
Unter anderen Vorzeichen konnten wir das in der Woche vor Ostern erleben, als die Pariser Kathedrale Notre-Dame in Flammen stand. Hier war zwar die Ursache eine andere, der Effekt jedoch derselbe. Wer die lodernden Flammen das uralte Gebälk der Kirche auffressen sah, rechnete mit dem Schlimmsten: dass der Stein unter der Hitze bersten und die ganze Kirche zusammenfallen würde. Was für ein Verlust wäre das gewesen! Manche Kommentatoren stimmten sich bereits darauf ein und sahen in dem zusammensackenden Gotteshaus eine Menetekel für den Untergang der christlich-abendländischen Kultur.
Der Zerstörung von Kulturdenkmälern wie in China eilen Schritte voraus: Zuerst sollen die Anderen unsichtbar gemacht werden. Wenn in der arabischen Welt eine Kirche errichtet wird, dann ist es häufig besser, wenn man von außen nicht erkennt, dass es sich um eine solche handelt. Die autoritären Führer dieser islamischen Länder wollen den Eindruck erhalten, dass die Gesellschaften, die sie beherrschen, monolithische Blöcke sind, die klar "wir" und "die" von einander trennen. Mit der Angst vor einem äußeren Feind, meist westlich und somit christlich, schüren diese autokratischen Herrscher Ängste unter der Bevölkerung, die sich im Inneren des Landes verheerend auf das Zusammenleben der verschiedenen Identitäten auswirken. Am perfidesten haben das Al-Kaida und der IS betrieben, die Sprengung der Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan und die Zerstörung der antiken Stadt Palmyra sind traurige Zeugnisse dieses ideologischen Überlegenheitswahns.
Mehr als nur kultische Praxis
Religionsfreiheit muss heute eigentlich mit Identitätsfreiheit übersetzt werden. Es geht dabei um Lebensvollzüge, die nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit kultischer Praxis stehen. Die zahlen in Europa spiegeln das. Das Pew-Institute in Washington hat im vergangenen Jahr eine Studie vorgelegt, nach der 90 Prozent der befragten Europäer angaben, getauft zu sein, 70 Prozent betonten, dass sie ihr Leben nach christlichen Werten ausrichten, aber nur weniger als 20 Prozent besuchen regelmäßig den Gottesdienst. Daraus kann man zurecht folgern, dass religiöse Zugehörigkeit vor allem kulturelle Zugehörigkeit und Identität bedeuten und nicht ausschließlich auf die kultische Praxis bezogen werden kann.
Singapur ist hier das bessere China, wenn man so will: Das Land ist keine Demokratie, es gewährt aber großzügig Religionsfreiheit. Das bedeutet, dass man in dem kleinen Staat mit seiner eigenen Identität, Kultur und Sprache willkommen ist - all das, was mit Religion häufig dann besonders eng einhergeht, wenn man ins Ausland geht und dort lebt und arbeitet. Viele Menschen müssen hingegen heute in Staaten leben, die jedoch umgekehrt die Rhetorik einer Mehrheit gegen Minderheiten kultivieren und ausspielen. Die Folgen zeigen sich dann bei den am Ostersonntag ermordeten Christen in Sri Lanka genauso wie bei den verfolgten Muslimen in Indien: Dort wo eine Politik des Eigenen um sich greift, die sich davon nährt, die anderen zu entwürdigen und ihrer Freiheiten zu berauben, ist es nicht weit zu Gewalt und Mord. Nicht nur in China kann man also sehen, wohin solcher Fanatismus führt.
Alexander Görlach ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hong Kong.