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Habermas fordert Solidarität

Bernd Riegert27. April 2013

Europa braucht eine neue demokratische Grundlage, sagt der renommierte Philosoph Jürgen Habermas. Kommt die Botschaft an? An der Universität Leuven hat auch der EU-Ratspräsident zugehört.

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Jürgen Habermas an der Universität in Leuven (Foto: DW)
Bild: DW

Gespannt warteten über 500 Studenten auf die Forscherlegende im überfüllten, größten Hörsaal der Katholischen Universität im belgischen Städtchen Leuven. Wer keine Platzkarte ergattert hatte, konnte die Vorlesung in leichtem Nieselregen auf einem Großbildschirm im Universitätsgarten verfolgen. Als der 83-jährige Philosoph und Soziologe dann erschien, erhoben sich die jungen Leute von den Sitzen, Applaus und standing ovations für den weltweit geachteten kritischen Geist. Jürgen Habermas dozierte rund eine Stunde lang über "Demokratie, Solidarität und die europäische Krise", seine erste öffentliche Vorlesung zum wichtigsten Thema in Europa seit vielen Jahren. Unter den Zuhörern war auch der EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, der die Gipfeltreffen der 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union leitet und die Euro-Krise an vorderster Front zu bekämpfen versucht.

"Wir brauchen Solidarität"

Jürgen Habermas kritisierte die derzeitige Rettungspolitik der Europäischen Union scharf. Die EU verkomme zu einer den Finanzmärkten angepassten Technokratie. Nötig sei aber die Entwicklung einer "supernationalen" Demokratie, in der die heutigen Nationalstaaten zwar erhalten bleiben, aber Souveränität abgeben sollten. "Wenn man die Währungsunion erhalten will, reicht es nicht mehr aus, angesichts der strukturellen Unterschiede einzelnen überschuldeten Ländern Kredite zu gewähren, damit diese alleine ihre Wettbewerbsfähigkeit wieder erlangen. Das reicht nicht!", rief Habermas im Hörsaal aus. "Stattdessen braucht man Solidarität und einen kooperativen Ansatz, der sich aus einer gemeinsamen politischen Perspektive erzeugt." Der Philosoph forderte eine Demokratisierung der Europäischen Union und eine demokratische Kontrolle des EU-Rates, dem Herman Van Rompuy vorsitzt.

Die Verträge der Europäischen Union müssten dazu von einem Konvent neu gefasst werden, sagte Jürgen Habermas. Den Schlüssel zur Veränderung der Union halte die deutsche Regierung in Händen. Ihr falle aus demografischen und ökonomischen Gründen eine Führungsrolle in Europa zu, nur dürfe sie nicht der Versuchung erliegen, einen nationalen Alleingang zu wagen. Es gehe nicht um ein "deutsches Europa", sondern um ein "Deutschland in Europa", so Habermas weiter. Um die Euro-Zone zu erhalten, müsse die Währungsunion in eine wirkliche politische Union überführt werden.

Herman Van Rompuy, Ratspräsident der Europäischen Union (Foto: DW)
Lektion vom Vorbild: EU-Präsident Van RompuyBild: DW

"EU wandelt sich bereits"

Herman Van Rompuy, der EU-Ratspräsident, erinnerte daran, dass er selbst 1968 angefangen hat Philosophie zu studieren. Zu jener Zeit war Professor Jürgen Habermas schon hoch geachteter Soziologe in Frankfurt am Main. Es sei schon etwas Besonderes den Mann zu treffen, der sich seit Jahrzehnten über Europa und die europäische Einigung Gedanken mache. Van Rompuy, der aktive Politiker, schränkte aber ein: "Als wir miteinander sprachen, stimmten wir nicht in allem überein, Professor! Wir haben als Politiker und Intellektueller unterschiedliche Rollen mit unterschiedlicher Verantwortung." Jürgen Habermas sagte, er habe Verständnis dafür, dass der Europäische Rat sich schwer tue, weitreichende Entscheidungen zu treffen. "Niemand lässt sich gerne selbst entmachten, aber die wirtschaftlichen Fakten werden Wandel erzwingen", so der kritische Intellektuelle.

Herman Van Rompuy widersprach in seiner kurzen Ansprache indirekt, als er sagte, dass die Staats- und Regierungschefs sehr wohl bereits heute historische Entscheidungen gemeinsam treffen würden. "Sie haben mir auch gesagt, dass Sie sich Sorgen über Länder machen, die verleitet sein könnten, alleine einen eigenen Weg zu gehen. Diese Sorge schließt ihr Heimatland Deutschland ein", so Van Rompuy an Habermas gewandt. Der EU-Ratspräsident sieht Deutschland und andere Staaten gut eingebunden und integriert in Europa. Aus dem "ich und du" sei ein "wir", ein Zusammenhalt geworden.

Jürgen Habermas an der Universität in Leuven (Foto: DW)
Mit leidenschaftlichen Gesten hat der 83-Jährige den Saal im Griff: Jürgen Habermas in ÜbergrößeBild: DW

"Sparkurs ausbalancieren"

Nach der Vorlesung beantwortete Jürgen Habermas Fragen von Professoren und Studenten der Universität Leuven. Auf eine entsprechende Frage riet Habermas dazu, den strikten Sparkurs, wie ihn Deutschland und andere solvente Staaten im Norden verfolgen, abzumildern: "Ich würde für eine mehr ausgewogene Wirtschaftspolitik optieren, die zielgenaue Investitionsprogramme für Regionen oder auch ganze Länder umfasst. Sie soll einer Tendenz entgegenwirken, die immer weiter und weiter und weiter um sich greift! Und das ist die Tendenz, dass bei der Wettbewerbsfähigkeit und anderen grundlegenden Werten die Unterschiede zwischen den Mitgliedern der Währungsunion immer größer werden." Er sei aber kein aktiver Politiker, schränkte Habermas lächelnd ein.

"Wir träumen noch"

Mehr Demokratie und mehr Solidarität in Europa. Diese Forderung konnten viele Studenten in Leuven unterstützen, wie zum Beispiel Peter Oomsels, der gerade seine Doktorarbeit im Fach Verwaltungswissenschaften schreibt: "Wir haben heute Abend gelernt, dass die Europäische Union einen weiten Weg zurückgelegt hat, aber noch einen genau so langen Weg vor sich hat. Wir sind erst am Anfang der weiteren Entwicklung der EU." Der Doktorand Peter Oomsels glaubt, dass die Kritik des alten Gelehrten Habermas genau dem entspricht, was die jungen Leute in Europa empfinden. "Wir haben noch den Traum von der europäischen Idee, sind aber enttäuscht davon, wie die Politik Europa zurzeit führt."

Am Schluss der Veranstaltung schaute Jürgen Habermas auf seine Armbanduhr und entschuldigte sich unter dem Gelächter seiner Zuhörer dafür, dass er wieder so lange gebraucht habe. Herman Van Rompuy gab er mit auf den Weg: "Die Regierungen in Europa sind einfach zu ängstlich. Die europäischen Fragen müssen den Menschen zur Abstimmung vorgelegt werden." Schon in drei Wochen beim nächsten EU-Gipfel könnte der Ratsvorsitzende die Früchte des intellektuellen Austauschs aus Leuven in die Diskussionen einbringen.