Haiti im Chaos: Wie es dazu kam und wer es beenden könnte
12. März 2024Premierminister Ariel Henry hat sich nach Angaben der karibischen Staatengemeinschaft Caricom zum Rücktritt bereiterklärt. Es werde ein siebenköpfiger Präsidialrat für den Übergang hin zu Wahlen in Haiti gegründet, der einen neuen Interims-Premierminister bestimmen werde, teilte Guyanas Präsident Mohamed Irfaan Ali am Montag (Ortszeit) nach einem Treffen der Regierungschefs karibischer Staaten in Jamaika mit. Mächtige kriminelle Banden, die große Teile Haitis und fast die gesamte Hauptstadt Port-au-Prince kontrollieren, hatten Henrys Rücktritt gefordert. Und damit dürften sie jetzt eines ihrer Ziele erreicht haben.
"Kriminelle haben das Land übernommen. Es gibt keine Regierung," Das waren die Worte von Bharrat Jagdeo, Vizepräsident von Guyana vor der Caricom-Dringlichkeitssitzung.
In dem Karibikstaat greifen Bandenmitglieder seit Tagen staatliche Institutionen wie Polizeistationen, Regierungsgebäude und Gefängnisse an. Berichten zufolge liegen Leichen auf den Straßen; mehrere Hunderttausend Menschen sollen innerhalb des Landes auf der Flucht sein. In der Region um die Hauptstadt Port-au-Prince gilt der Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre. Allerdings zeigt die Polizei laut Berichten kaum noch Präsenz und lässt damit Plünderungen und Selbstjustiz mehr oder weniger freien Lauf. Schon im vergangenen Jahr schätzten die Vereinten Nationen, 80 Prozent der Hauptstadt seien unter der Kontrolle der Banden. Deutschland, die EU, die USA und andere Länder haben ihr Botschaftspersonal aus Sorge um dessen Sicherheit abgezogen.
Wie konnte sich die Lage so zuspitzen?
Die Zeichen stehen auf Eskalation - spätestens seit dem 7. Februar: Dieses Datum hatten verschiedene politische und gesellschaftliche Gruppen gemeinsam mit Premierminister Ariel Henry für den Amtsantritt einer neuen Regierung gesetzt. Allerdings hatte Henry gar keine Wahlen abhalten lassen. Stattdessen brachte er Ende Februar eine neue Übergangsperiode bis August 2025 ins Gespräch.
Verstärkt hat den aktuellen Unmut sicherlich, dass Henry dies nicht in Port-au-Prince verkündete, sondern auf einem Caricom-Gipfel in Guyana. Von dort reiste er nach Kenia; seit dem 05. März befindet er sich in Puerto Rico.
Während Henrys Abwesenheit hat sich die Lage zusehends verschlechtert: Anfang März stürmten Bandenmitglieder zwei Gefängnisse und verhalfen dort rund 4500 Insassen zum Ausbruch.
Wer heizt die Lage weiter an - und wer ist Gang-Boss "Barbecue"?
Zum Ernst der Lage trägt auch bei, dass einst rivalisierende Banden sich verbündet haben. Allen voran zu nennen ist ein Zusammenschluss aus neun vormals eigenständigen Gangs namens "G9 Familie und Verbündete". Er wird angeführt von Jimmy Chérizier, Spitzname "Barbecue". Der frühere Polizist wird von Beobachtern immer wieder als einer der de facto mächtigsten Männer in Haiti angeführt. Dem Magazin "New Yorker" nannte Chérizier im vergangenen Jahr unter anderem Fidel Castro und Malcolm X als Vorbilder. "Ich mag auch Martin Luther King, aber er kämpfte nicht gerne mit Waffen, aber ich schon."
Was ist die Vorgeschichte?
Die frühere französische Kolonie Haiti nimmt das westliche Drittel der Karibikinsel Hispaniola ein; im Osten liegt die einst spanisch beherrschte Dominikanische Republik. Die Bevölkerung beider Inselstaaten stammt zu großen Teilen von der afrikanischen Westküste, die im Auftrag der Kolonialherren verschleppt und versklavt wurden.
Die Unabhängigkeit von Frankreich errang Haiti 1804 nach einer Revolution, die aus einem jahrzehntelangen Sklavenaufstand hervorging. Es ist das einzige Land der westlichen Hemisphäre, das die Kolonialherrschaft unter der Führung ehemaliger afrikastämmiger Sklaven abstreifte. Allerdings gab es seitdem viele von Gewalt und Instabilität geprägte Perioden, in denen die verschiedenen Ethnien um die Vorherrschaft rangen.
Ab Mitte des 20. Jahrhunderts propagierte der Diktator François Duvalier die Entmachtung der ethnisch gemischten Elite des Landes zugunsten der schwarzen Mehrheitsbevölkerung. Unter seiner Führung stiegen auch Banden, die rücksichtslos und gewaltsam agierten, zu einer mächtigen Parallelgewalt neben der Staatsmacht auf.
Als weiteres Schlüsselereignis gilt das verheerende Erdbeben von 2010 mit mehreren Hunderttausend Todesopfern: Der schwache Staat konnte dessen Folgen kaum abfangen - und so konnten die Banden ihren Machtradius über ihre angestammten Viertel hinaus ausdehnen.
Der Unmut der Bevölkerung nahm zu - und richtete sich 2019 zunehmend gegen den Präsidenten Jovenel Moïse, dem Korruption vorgeworfen wurde. Infolge der Proteste wurden anstehende Wahlen nicht abgehalten und Moïse regierte zunehmend per Dekret. Im Juli 2021 wurde Moïse von Unbekannten in seiner Amtsresidenz ermordet. Seitdem steht der von ihm gerade erst als Premierminister auserkorene Ariel Henry an der Spitze des Staates - in Personalunion auch als Übergangspräsident. Seit dem Mord an Moïse, der bis heute nicht aufgeklärt ist, gerät die öffentliche Ordnung noch stärker unter Druck. Henry wandte sich deshalb an die internationale Gemeinschaft. Im Oktober 2023 beschloss der UN-Sicherheitsrat die Entsendung einer multinationalen Sicherheitstruppe unter Führung Kenias.
Was sind die Startschwierigkeiten bei der UN-Eingreiftruppe?
Der kenianische Präsident William Ruto hatte schon Monate vor dem Beschluss des UN-Sicherheitsrates den Vorschlag unterbreitet, bis zu 1000 Sicherheitskräfte zu entsenden. Doch dabei handelte es sich nicht um Soldaten, sondern um Polizisten. Beobachter in Nairobi äußern Zweifel, dass deren Ausbildung und Ausrüstung für den Kampf mit den teils schwer bewaffneten Banden in Haiti taugt.
Schwerer wiegt jedoch ein juristisches Argument: Im Januar stellte ein kenianisches Gericht klar, dass der nationale Sicherheitsrat nur Soldaten ins Ausland entsenden darf - und keine Polizisten. Das Gericht ließ jedoch das Schlupfloch offen für eine Polizeimission, wenn ein Entsendeabkommen mit dem betreffenden Land existiert. Zur Unterzeichnung eines ebensolchen Abkommens war Haitis Regierungschef Henry Anfang März nach Nairobi gereist. Doch die kenianische Opposition hat bereits eine neue Klage angekündigt.
Auch die Finanzierung der Mission ist noch nicht in trockenen Tüchern: Die Regierung von US-Präsident Joe Biden wollte bis zu 200 Millionen Dollar zur Verfügung stellen. Ob die Republikaner im Kongress dieses Vorhaben jedoch mitten im Wahlkampf unterstützen, ist fraglich. Und so ist weiter offen, in welcher Form die internationale Gemeinschaft Haitis Hilferuf beantworten wird.