Haiti: Wahlen im Dunstkreis alter Eliten
18. August 2015Es gibt kaum einen Menschen auf Haiti, der nicht genau weiß, was er am 12. Januar 2010 gemacht hat, als die Erde anfing zu beben. Danach war nichts mehr wie zuvor. Und noch immer kämpft das Land mit den Folgen des verheerenden Erdbebens, bei dem nach haitianischen Angaben mehr als 300.000 Menschen starben und Millionen obdachlos wurden.
Während der Kolonialzeit galt der Inselstaat als die Perle der Karibik, heute ist er das Armenhaus Lateinamerikas. Die Infrastruktur des Landes ist noch immer miserabel, Korruption ist seit Jahrzehnten weit verbreitet und das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik massiv angeschlagen.
Am 9. August waren rund 5,8 Millionen Stimmberechtigte aufgerufen, sämtliche Parlamentarier und zwei Drittel der Mitglieder des Senats neu zu bestimmen. Das ist nur die erste einer ganzen Serie von Wahlen, denn bereits am 25. Oktober wählen die Haitianer in einer zweiten Runde weitere Senatoren und gleichzeitig auch einen neuen Präsidenten und kommunale Vertreter.
Am Mittwoch werden die Teilergebnisse der ersten Wahlrunde veröffentlicht. "Das ist für die Parteien eine Art Test", sagt Politikwissenschaftler Jan Wörlein, der an der französischen Universität Lille zu Haiti forscht. Dabei werde sich zeigen, welche Parteien und damit auch welche Präsidentschaftskandidaten die Nase vorn hätten.
Neue Namen, alte Lenker
Der Testlauf dürfte umso mehr ins Gewicht fallen, als dieser Urnengang mit mehrjähriger Verzögerung stattfindet. Wegen eines Konflikts zwischen Staatschef Michel Martelly und der Opposition wurden seit 2011 einfach keine Wahlen mehr abgehalten. Im Januar löste sich das Parlament auf. Seitdem regiert der ehemalige Sänger Martelly per Dekret. Nach Protesten und internationalem Druck reagierten die verfeindeten Lager nun und einigten sich auf Neuwahlen.
Dafür bewarben sich insgesamt 1800 Kandidaten von mehr als 128 registrierten Parteien. "Das ist ein spannendes Rennen mit absolut unklarem Ausgang", so Wörlein. Drei der vier Parteien mit Aussichten auf Erfolg hätten sich vor kurzem erst gegründet. Doch auch hinter den neuen Gruppierungen verbergen sich alte Gesichter. "Es sind größtenteils die Unternehmer und die schwarze Elite, die hier antreten." So stehen hinter drei der Organisationen ehemalige Präsidenten des Landes.
Mit besonderer Spannung wird das Abschneiden der Partei Fanmi Lavalas des ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide erwartet. Aristide war Ende Februar 2004 durch einen Militärputsch gestürzt worden. Nach Jahren im südafrikanischen Exil kehrte er 2011 nach Haiti zurück. Die Kandidatin seines Lagers, Maryse Narcisse, verfolgt eine linkspolitische Agenda.
Als weiterer Favorit geht die Partei Verité des früheren Präsidenten René Préval ins Rennen. Darüber hinaus gibt es mit der Bouclier National einen Unternehmerblock, und auch der jetzige Präsident Martelly versucht über einen Kandidaten der Partei PHTK, seinen Einfluss aufrecht zu erhalten. Er selbst darf nach einer Legislaturperiode nicht mehr antreten.
Wahlsieger ohne Legitimation
Für die Stabilität des Landes sei es gut, dass die Wahlen nun endlich stattfänden. Schlecht seien allerdings die Umstände, unter denen sie abgehalten werden, so Wörlein. "Bis jetzt ist der Wahlprozess ein großes Chaos." So gab es bei der Abstimmung zum Parlament viele Zwischenfälle. Nach Polizeiangaben mussten 26 Wahllokale vorzeitig geschlossen werden - einige davon wurden verwüstet, andere in Brand gesteckt.
Auch der Wahlkampf war bereits von gewaltsamen Aktionen geprägt. Von einem "Klima des Terrors" sprach das Nationale Netzwerk für die Verteidigung der Menschenrechte (RNDDH). Nach seinen Informationen kamen in diesem Zusammenhang fünf Menschen ums Leben und viele weitere wurden verletzt. Dennoch zogen die Wahlbeobachter eine positive Bilanz. Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon begrüßte den Urnengang in dem Karibikstaat als Meilenstein für die Demokratie.
Die Beteiligung daran blieb allerdings äußerst gering. Die EU-Beobachtermission schätzt, dass nur 15 Prozent der Stimmberechtigten ihre Kreuzchen gemacht hätten. Andere Quellen sprechen noch von deutlich weniger. "Die Wahlbeteiligung auf Haiti ist traditionell sehr niedrig. Wer immer gewählt wird, hat deshalb auch nur eine sehr begrenzte demokratische Legitimität", sagt Wörlein.
Lange Distanzen bis zum nächsten Wahllokal sind ein Grund. Ein anderer sei aber auch die schwach ausgeprägte Zivilgesellschaft. "Die demokratische Wahl sagt relativ wenig über den tatsächlichen Willen der Bevölkerung aus", so der Politikwissenschaftler.
Knackpunkt soziale Gerechtigkeit
Der aufgestauten Frustration und der sich bahnbrechenden Gewalt zugrunde liegt die extreme soziale Spaltung der Gesellschaft. In keinem Staat Lateinamerikas ist das Einkommen ungerechter verteilt. Eine kleine Elite verfügt über großen Einfluss, während rund 60 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. Die Lohnkosten sind niedrig, darum boomt die Textilindustrie und macht knapp 80 Prozent aller Exporte aus. Hinzu kommen Mangos, Kaffee und Kakao. So ist die Wirtschaft in den vergangenen Jahren wieder etwas gewachsen.
Erholt hat sich das Land vom Erdbeben und jahrelanger Misswirtschaft aber noch lange nicht. Milliarden US-Dollar an Spendengeldern sind nach dem Erdbeben in das Land geflossen. Zwar hätten mittlerweile wieder mehr Haitianer ein Dach über dem Kopf, doch viele strukturelle Probleme wie beispielsweise in der Gesundheitsversorgung seien nicht gelöst, meint Jan Wörlein.
Das Land hängt so weiter am Tropf internationaler Geldgeber. Dass die Wahlen nun daran etwas ändern werden, glaubt der Haiti-Experte nicht. Das versuche noch am ehesten die linke Partei Fanmi Lavalas. "Aber sonst hat keiner der politischen Aktuere ein Programm, das wirklich etwas an dieser Abhängigkeit ändern möchte."