"Hajar al assas": Grundstein Integrationskurs
25. August 2015"Das ist ein bisschen wie früher in der Schule", sagt Alaa grinsend, streicht sich flüchtig über den schwarzen Bart und deutet auf den Tisch vor ihm. Auf seinem Pult hat er sein Buch, einen Stift und eine Mappe ausgebreitet. Der Klassenraum im obersten Stockwerk des Gebäudes mitten in der Bonner Einkaufspassage füllt sich inzwischen. Die meisten Plätze sind um kurz vor neun besetzt. Gemeinsam mit Alaa sitzen hier zwölf Männer und Frauen. "Der Unterschied zur Schule früher ist, dass mir hier wohl niemand mit einem Stock auf die Finger haut, wenn ich etwas falsch mache", flüstert der 28-Jährige und zeigt demonstrativ auf seine ausgestreckten Finger. Vorne betritt eine blonde Frau Ende 30 den Raum. Mit einem roten Stift schreibt sie ihren Namen an die Tafel und dreht sich zur Klasse. "Guten Tag. Ich heiße Larysa Koch. Ich bin eure Lehrerin. Ich komme aus der Ukraine." Sie spricht laut und langsam und zeigt dabei auf sich. "Wie heißen Sie?" - "Ich heiße Alaa Houd", sagt Alaa. "Woher kommen Sie?", fragt Frau Koch. - "Ich komme aus Syria." - "Ich komme aus Syrien", korrigiert Frau Koch.
Integration per Kurs?
Integrationskurs heißt die Maßnahme, die Alaa und die anderen Schülerinnen und Schüler ab heute durchlaufen. Montag bis Freitag täglich. Immer vier Schulstunden. Außer Alaa stammen drei Männer und eine Frau aus Syrien. Eine andere Frau kommt aus dem Irak. Sie ist Bauingenieurin. Drei weitere Frauen sind aus Indien nach Deutschland gekommen, ein Mittvierziger mit blauen Augen aus der Türkei. Vor ihm sitzt eine Frau aus China. Sie alle wollen hier Deutsch lernen.
"Der Andrang ist sehr groß", berichtet Alev Erisöz-Reinke in ihrem kleinen Büro zwei Stockwerke tiefer. Sie ist bei der Sprachschule acb lingua, die den Integrationskurs ausrichtet, für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Im vergangenen Jahr hatten bundesweit mit rund 142.000 neuen Teilnehmern so viele Ausländer wie nie zuvor einen Integrationskurs begonnen. Im ersten Quartal dieses Jahres erhielten nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bereits fast 70.000 Personen die Berechtigung für die Teilnahme an einem solchen Angebot.
"Unsere Planung geht bis Ende 2016, die Kurse sind alle belegt", sagt Frau Erisöz-Reinke. "Teilweise müssen die Schüler bis zu einem halben Jahr warten, bis ihr Kurs beginnen kann." Viele haben bereits davor schon mehrere Monate gewartet. Denn Flüchtlinge, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind und deren Asylbewerberverfahren noch laufen, haben keinen Anspruch auf einen Integrationskurs. Der besteht nur, wenn ein Asylantrag anerkannt wurde.
Weil immer mehr Flüchtlinge kommen und viele lange auf die Anerkennung warten, bietet die Sprachschule in Bonn inzwischen ein zusätzliches Programm an: "Pro Integrationskurs reservieren wir einen Platz für Flüchtlinge, die noch auf die Bewilligung ihres Asylantrags warten", sagt Alev Erisöz-Reinke. Diesen stelle die Schule kostenfrei zur Verfügung.
Am Ende des insgesamt 600-stündigen Kurses sollen die Teilnehmer in der Lage sein, wichtige Themen aus dem alltäglichen Leben auf Deutsch angehen zu können. Arbeit und Beruf, Wohnen und Einkaufen gehören dazu. Außerdem lernen sie, auf Deutsch Briefe oder E-Mails zu schreiben, zu telefonieren oder sich um einen Arbeitsplatz zu bewerben. Bei einer Sprachprüfung müssen die Teilnehmer dann das Sprachniveau B1 nachweisen. Wer dies schafft, muss den 60 stündigen sogenannten Orientierungskurs besuchen. Dort sprechen die Schülerinnen und Schüler über Rechte und Pflichten sowie über Geschichte, Kultur und Werte, die in Deutschland wichtig sind. Auch hier gibt es einen Abschlusstest. Wer diesen ebenfalls besteht, erhält des "Zertifikat Integrationskurs". Es bescheinigt ausreichende Deutschkenntnisse sowie wichtige Grundkenntnisse über die deutsche Gesellschaft und kann die Einbürgerung erleichtern.
"Ein Grundstein für alles Weitere"
Oben im Klassenzimmer ist gerade Pause. Alaa zeigt auf seinem Smartphone Bilder von seinem zerschossenen Auto in der Nähe von Damaskus. Verwandte hatten es gefunden, nachdem es eines Tages nicht mehr auf dem Parkplatz stand. In der Windschutzscheibe sind mehrere Einschläge deutlich zu sehen. Ein großes Kaliber. Vermutlich ein Maschinengewehr. Auf dem Beifahrersitz Blutspuren. In dem Wagen sei jemand gestorben: Davon ist Alaa überzeugt. Er glaubt, dass Mitglieder der Freien Syrischen Armee (FSA) das Auto gestohlen hatten. Sein Heimatort Al-Kiswah südlich von Damaskus sei mehrfach von der FSA angegriffen worden, erzählt er. Ebenso wie von Regierungstruppen und der radikalislamischen Al-Nusra-Front. Als man ihn zwingen wollte, sich einer der Parteien anzuschließen, habe er das Land verlassen.
Nach seiner spektakulären Flucht über den Libanon, die Türkei und Griechenland kam er schließlich nach Deutschland. Seine Frau und seinen dreijährigen Sohn musste er zurücklassen. In Deutschland folgte eine Odyssee durch zahlreiche Notunterkünfte. Inzwischen ist er in Bonn angekommen und wohnt hier in einer WG. Sein Asylantrag ist genehmigt. Er besitzt einen vorläufigen Pass und darf theoretisch auch arbeiten. Wäre da nicht das Sprachproblem. Ohne Sprache keine Arbeit, sagt Alaa. Ohne Arbeit keine Möglichkeit, seine Frau und seinen Sohn in Syrien zu unterstützen. Wenn beide nach Deutschland kommen können, will er sie natürlich auch versorgen. Deswegen die Motivation, die Sprache schnell zu lernen. "Wir haben einen Ausdruck im Arabischen", sagt Alaa. "Hajar al assas: Der Grundstein." Der Kurs sei für sein Leben in Deutschland genau dies.
"Verstehen und verstanden werden"
Die bunte Uhr über der Tafel im Klassenraum zeigt inzwischen 12:10. Gemeinsam gehen alle Teilnehmer die neuen Wörter und Sätze durch. Am Ende des ersten Kurstages können sie auf Deutsch Angaben zu ihrem Alter, ihrer Herkunft, ihrem Wohnort, ihrem Familienstand, ihren Hobbies, ihrem Lieblingsessen und ihrer Lieblingsfarbe machen. "Morgen wiederholen wir das", sagt Frau Koch. "Bitte machen Sie zu Hause die Übungen."
"Ich heiße Alaa Houd. Ich bin verheiratet", sagt Alaa auf Deutsch, als alle anderen die Klasse bereits verlassen haben. "Ich bin 28 Jahre alt. Ich habe ein Kind. Einen Sohn. Drei Jahre alt. Ich wohne in Bonn." Kurz runzelt er die Stirn mit den Geheimratsecken und überlegt. "Ich gerne Saft trinke. Ich esse Fleisch, Fisch und Reis gerne." Die letzten Vokabeln seien nicht so einfach, ergänzt er auf Englisch. Was für ihn Integration bedeutet? "Hier gemeinsam mit den Menschen zu leben und ein Teil der Gesellschaft zu sein." Und dafür sei die Sprache erst einmal die Hauptsache. "Um zu verstehen und verstanden zu werden."