"Halboffenes Gefängnis für Journalisten"
2. August 2013Aussage gegen Aussage: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan habe das Land in ein "halboffenes Gefängnis" verwandelt, in dem es für Journalisten unmöglich sei zu leben, kritisiert CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu. Der stellvertretende Premierminister Bekir Bozdag widerspricht: viele Vorwürfe der CHP hätten nichts mit der Realität zu tun.
Fest steht jedoch, dass seit Beginn der Gezi-Park-Proteste eine ganze Reihe von Journalisten ihren Job verloren. Nach Angaben der Türkischen Journalistenvereinigung (TGS) gibt es 59 Fälle dieser Art. "Zu den Entlassungen kam es vor allem durch die Zensurpolitik einiger Medienunternehmen, als es um die Berichterstattung über die Gezi-Park-Proteste ging", heißt es von Seiten der TGS.
"Präsenz des Premiers erdrückt die Medien"
Entlassen wurde in dieser Woche auch der Journalist Yavuz Baydar. Seit neun Jahren arbeitete er als Ombudsmann für die Zeitung Sabah. Das regierungsnahe Blatt habe bei der Berichterstattung über die Gezi-Park-Proteste versagt, kritisiert der Journalist im DW-Gespräch: "Meine Hauptaufgabe war, die Beschwerden, Reaktionen und Proteste der Leserschaft aufzufangen und in meinen Kolumnen wiederzugeben. Seit Beginn der Proteste wurden zwei meiner Artikel nicht veröffentlicht", so der Journalist. Baydar ist in Europa als liberaler Kolumnist bekannt; Ende Juni wurde er von der Europäischen Kommission zu einem Vortrag nach Brüssel eingeladen. Dort habe er Kritik am Zustand der türkischen Medien geübt, so der Journalist.
Als er in die Türkei zurückkehrte, habe er die ersten deutlichen Formen der Zensur erlebt, so Baydar. "Meine Kritik richtete sich gegen alle türkischen Medien. Sie dämonisieren unter anderem CNN International, Al Jazeera und Reuters als Teil einer globalen Verschwörung." Sabah habe vor allem dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel heftige Vorwürfe gemacht, weil es eine Titelstory über die Gezi-Park-Proteste druckte.
"Mein kritischer Artikel über diese Anschuldigungen gegen ausländische Medien war der erste, der von der Redaktionsleitung nicht veröffentlicht wurde. Bei meiner letzten Kolumne ging es um die Unabhängigkeit des Ombudsmannes von der Redaktionsleitung und um die Glaubwürdigkeit der Medienunternehmen im Allgemeinen. Zwei Tage später wurde ich entlassen", berichtet Baydar.
In der Türkei gebe es keine TV-Sender, die "wie die deutsche ARD oder die britische BBC im Dienste der Öffentlichkeit stehen", sagt er; das sei eine "sehr beunruhigende Situation". Schuld sei vor allem der Einfluss des Premierministers, meint Baydar: "Viele Kabinettsmitglieder sind nicht damit einverstanden, wie die Medien unter das Joch der Exekutive gestellt werden, aber die einschüchternde Präsenz und der Wille des Premiers erdrückt die Medien."
Selbstzensur aus Angst
Nach den Worten des investigativen Journalisten Ahmet Sik erlebt die türkische Presse die dunkelsten Tage der vergangenen zwei Jahrzehnte. "Zensur gab es schon immer. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, wann es eine stärkere Selbstzensur gab als jetzt. Die Menschen verlieren ihre Jobs, ihre Kolumnen und TV-Programme", erklärt Sik gegenüber der Deutsche Welle. Er selbst habe 13 Monate im Gefängnis verbracht, weil ihm unterstellt worden sei, Mitglied einer bewaffneten Untergrundorganisation ("Ergenekon") zu sein, erklärt der Journalist.
Jeder der 64 Journalisten, die laut CHP-Bericht zurzeit inhaftiert sind, sei aufgrund seiner Arbeit im Gefängnis, erklärt Sik: "Wenn man sich die Fälle und die 'Beweise', die gegen sie verwendet werden, ansieht, dann sind das unter anderem Telefonate zwischen zwei Journalisten, Telefonate mit Informanten, geschossene Fotos, geschriebene Artikel." Ihm selbst habe man wegen eines Buchentwurfs Zusammenarbeit mit Terroristen vorgehalten. "Wenn man jemanden beschuldigt, ein Terrorist zu sein oder einer bewaffneten Terrororganisation anzugehören, dann sollte man eine sichergestellte Waffe als Beweis haben, anstatt eines Fotoapparats", kritisiert Sik.
Der Staat selbst übe Druck und Grausamkeiten aus, sagt Sik: "Wir haben das bei den Protesten gesehen. Sechs Menschen sind gestorben, darunter ein Polizist. Viele andere leiden immer noch in Krankenhäusern. Ich kann kein anderes Wort als 'Terrorismus' für eine Mentalität finden, die eine friedliche Demonstration mit entsetzlicher Gewalt niederschlägt." Momentan sei es für Journalisten das Beste, nicht in den Massenmedien zu arbeiten, zieht Sik sein Fazit: "Meine Freunde, die dort beschäftigt sind, schauen beschämt zu Boden."