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Die Frau, die zur Pflanze werden will

Sabine Peschel/LK12. September 2016

In "Die Vegetarierin" schreibt die südkoreanische Autorin über eine Frau mit einer ungewöhnlichen Obsession: Sie möchte ein Baum werden. Für die englische Übersetzung erhielt Han Kang den International Booker Prize 2016.

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Die südkoreanische Autorin Han Kang beim Internationalen Buchfestival in Edinburgh. © picture-alliance/Photoshot
Bild: picture-alliance/Photoshot

Die 45-jährige Han Kang gilt als bedeutende Stimme ihrer Generation. In ihrer Heimat Südkorea ist sie eine der meistgelesenen Autorinnen. Sie hat Erzählungen, Romane und eine Gedichtsammlung veröffentlicht.

Deutsche Welle: “Die Vegetarierin” wurde bereits 2007 veröffentlicht – warum wurde es erst jetzt, nach so vielen Jahren, übersetzt?

Han Kang: Die Rechte für die englische Übersetzung wurden, glaube ich, erst 2013 verkauft. Davor wurde das Buch ins Japanische, Chinesische, Vietnamesische, Polnische, Spanische und Portugiesische übersetzt.

Dieses Frühjahr haben Sie den Internationalen Man Booker Preis für "Die Vegetarierin" erhalten Waren Sie überrascht von dem Erfolg nach der englischen Übersetzung?

Ich war überrascht, und es fühlte sich seltsam an – aber auf eine gute Weise. Vor allem, weil ich den Roman bereits vor elf Jahren geschrieben habe.

War Ihr Buch in Korea ein Bestseller?

Als es vor neun Jahren herauskam, nicht. Es hat sich konstant verkauft, aber es wurde vom Publikum nicht breit rezipiert. Nach dem Preis wurde es zum Besteller.

Buchcover von Die Vegetarierin von Han Kang © Aufbau Verlag
"Die Vegetarierin" erschien im Original 2007 in KoreaBild: picture-alliance/dpa/Aufbau-Verlag

Sie haben eine Vielzahl von Preisen erhalten. Hat der Internationale Man Booker Preis eine besondere Bedeutung für Sie?

Nach dem Preis hat sich mein Alltag in Korea verändert.

Was ist anders geworden?

Ich bin jetzt sehr beschäftigt.

Besuchen Sie viele Talkshows?

Nein. Ich bin vor vielen öffentlichen Auftritten davon gerannt. Habe mein bestes versucht, wieder an den Schreibtisch zurück zu kommen. Ich brauchte für mein nächstes Werk eine friedliche Ecke für mich. Aber es hat gedauert. Jetzt gewöhne ich mich langsam an die neuen Umstände. Ich möchte mein nächstes Buch so bald wie möglich schreiben.

Was ist Ihr nächstes Buch?

Es soll eine Trilogie werden wie "Die Vegetarierin". Ich habe einen Teil schon beendet und muss die anderen zwei noch schreiben. Ich brauche einfach ein bisschen Zeit für mich, um mich auf das Schreiben zu konzentrieren.

Wie lautet der Titel?

Das habe ich noch nicht entschieden.

Und worum geht es?

Nach "Die Vegetarierin" wurde ein weiteres Buch von mir ins Englische, Niederländische und Französische übersetzt. Kommendes Jahr wird es in Deutschland veröffentlicht. Der englische Titel ist "Human Acts". Dieser Roman beschäftigt sich mit dem Massaker in meiner Heimatstadt Gwangju (Stadt im Südwesten Südkoreas, wo im Mai 1980 ein Massaker an Hunderten Zivilisten verübt wurde, Anm. d. Red.).

Ich musste mich mit menschlicher Gewalt und menschlicher Würde auseinandersetzen. Und dann wollte ich dieses Thema ausweiten, indem ich die Verwandlung von menschlicher Gewalt zu menschlicher Würde mehr in den Blick nehme. Das Buch wird mehr von dieser Seite von Menschlichkeit handeln, menschlicher Würde und Stärke.

Sie wurden in Gwangju geboren. Was bedeutet der Ort für Sie? Warum haben Sie den Drang, über die Gewalt in der Vergangenheit zu schreiben?

Normalerweise tendiere ich mehr dazu, mich mit dem Innenleben der Menschen zu beschäftigen. Jeder war überrascht, als ich "Human Acts" veröffentlicht habe, weil es ein historisches Ereignis behandelt. Aber der Roman basiert auf meiner langandauernden Frage nach der Bedeutung des Menschseins. Als ich Gwangju verlassen habe und mit meiner Familie nach Seoul gezogen bin, war ich erst neun Jahre alt.

Südkorea Gwangju - Soldaten attackieren Zivilisten © picture-alliance/dpa/Na Kyung-Taek
Hunderte Menschen starben, als Soldaten im Mai 1980 die Proteste in Gwangju niederschlugenBild: picture-alliance/dpa/Na Kyung-Taek

Als ich zwölf war, habe ich ein Fotoalbum gesehen, das heimlich im Umlauf war, um das Massaker zu bezeugen. Ich war tief berührt, und das Album löste zwei unlösbare Fragen bei mir aus: die frage der menschlichen Brutalität natürlich und auf der anderen Seite zur menschlichen Würde und Stärke. Ich erinnere mich an die extrem lange Schlange von Menschen, die ihr Blut nach den Massenerschießungen für die Verwundeten spenden wollten. Diese Fragen haben sich mir tief eingegraben. Ich wollte nicht über das Massaker selbst schreiben. Ich wollte einfach erforschen, was es bedeutet, Mensch zu sein.

Als ich 42 Jahre alt war, habe ich endlich realisiert: Ich muss mich mit dem Ursprung meiner ewigen Frage über das Menschsein konfrontieren. Ich habe angefangen, Material über Gwangju zu sammeln sowie anderes Material über menschliche Gewaltakte wie das Nanjing Massaker, den Zweiten Weltkrieg, oder die Gräuel in Bosnien und vieles mehr. Dann konnte ich "Human Acts" fertig stellen.

Die Frage nach dem Menschsein steht auch in "Die Vegetarierin" im Mittelpunkt. Ihre Heldin Yeong-Hye ist besessen von der Idee, sich in eine Pflanze zu verwandeln. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Malerei Blumen © picture-alliance/CPA Media/Pictures From History
Die Faszination von Pflanzen - Han Kang hat sie in ihrem Roman verarbeitetBild: picture-alliance/CPA Media/Pictures From History

1997 hatte ich plötzlich das Bild einer Frau im Kopf, die sich in eine Pflanze verwandelt. Ich habe eine Erzählung geschrieben mit dem Titel "Die Früchte meiner Frau". Sie wurde auch ins Deutsche übersetzt. In dieser Erzählung verwandelt sich eine Frau tatsächlich in eine Pflanze, die ihr Ehemann in einen Topf setzt und gießt. Sie vertrocknet, und in der letzten Szene der Erzählung fragt sich ihr Mann, ob seine Frau im kommenden Frühjahr wieder erblühen wird. Es ist keine sehr dunkle Geschichte, eher eine magische, in der übernatürliche Dinge geschehen. Allerdings sind die magischen Momente eher unauffällig.

Man könnte in Versuchung geraten, "DieVegetarierin" als surreal, vielleicht sogar als phantastischen Roman zu kategorisieren. Wären Sie einverstanden?

Nach der Erzählung "Die Früchte meiner Frau" hatte ich das unerklärliche Gefühl, noch nicht fertig zu sein. Ich wollte wieder mit diesem Bild von jemandem arbeiten, der sich in eine Pflanze verwandelt. Nach einigen Jahren fing ich an, den Roman zu schreiben. Er ist viel dunkler und heftiger. Ich glaube nicht, dass "Die Vegetarierin" magisch oder surreal ist. Aber vielleicht könnten einige Leute ihn als Parabel interpretieren, weil meine Protagonistin Yeong-Hye sich weigert, weiter zur menschlichen Rasse zu gehören. Sie denkt, sie verwandelt sich in eine Pflanze und rettet sich selbst. Ironischerweise indem sie sich dem Tod nähert. Ich denke, das könnte als Parabel gelesen werden.

Ihr Roman wurde mit Kafkas “Verwandlung” verglichen. Finden Sie das zutreffend?

Als der Roman und auch schon, als die Erzählung "Die Früchte meiner Frau" in Korea veröffentlicht wurden, verglichen manche Leute das mit Kafkas "Verwandlung". Natürlich habe ich Kafka wie jeder andere auch als Teenager gelesen und ich denke, Kafka ist ein Teil dieser Welt geworden. Ich mag seine Bücher.

Dann gibt es da noch eine traditionelle Geschichte über einen Gelehrten aus der Joseon Dynystie im alten Korea. In dieser Geschichte kommt der Gelehrte von seinem harten Bürojob zurück. Als er sein Zimmer betritt, ist es voller Blumen und Bäume, und er schläft neben den Bäumen und spricht mit ihnen – so findet er Frieden. Und ich erinnere mich an eine Zeile aus einem Gedicht von Yi Sang aus den 1920ern, "Ich möchte glauben, dass Menschen Pflanzen sein sollten". Ich habe es als Student gelesen. Kafka, die Geschichte über den Gelehrten, die Lyrik von Yi Sang und viele andere Dinge lebten einfach in mir. Aber nichts davon war ein direkter Einfluss.

Manche Kritiker schreiben, ihre Romane handelten immer von Gewalt und Trauer. Wurzelt "Die Vegetarierin" in der koreanischen Gesellschaft?

Ich glaube, der Roman hat verschiedene Schichten, wie etwa die Frage, ob es möglich oder unmöglich ist, menschliche Gewalt zu verweigern. Unschuld zu erhalten, von der Schwierigkeit andere zu verstehen, Wut und Vernunft zu definieren und so weiter. Als ich den Roman geschrieben habe, habe ich das als universell gültige Fragen empfunden. Ich bin nicht mit der Interpretation einverstanden, der Roman sei nur eine Anklage gegen die koreanische Gesellschaft und das Patriarchat.

Er beschreibt eine Menge Gewalt gegen diese Frau und ihre Idee sich aufzulösen. Interessierte Sie das allgemeinere Phänomen von Brutalität gegen Frauen?

Eine Schicht im Roman, das lässt sich sagen, handelt von dem leisen Schrei der Frauen, ja. Aber ich denke, es wäre falsch, den Roman nur auf diese weibliche Stimme zu reduzieren. Da gibt es den Vater der Protagonistin Yeong-Hye, der ein Veteran des Vietnam-Krieges ist. Es gibt eine sehr gewalttätige Szene, in der er seine Tochter zwingt, Fleisch zu essen. Diese Szene überschneidet sich mit der Szene, in der die Ärzte in einer psychiatrischen Klinik Yeong-Hye zwangsernähren. Auf die Gefahr hin, stark zu vereinfachen, könnte man sagen, dass diese Figuren die Gewalt gegen Yeong-Hyes Entschlossenheit personifizieren.

Ist sie eine Anti-Heldin?

Manche Leute sagen, Yeong-Hye sei sehr passiv oder zu schwach. Aber ich finde das nicht. Ich finde, sie ist eine sehr entschlossene und starke Person. Sehr hartnäckig. Sie hat keine eigene Stimme, sondern wird als Objekt beobachtet. Aber sie ist ein wirklich zielstrebiges Wesen. Ich hoffe, dass die Leser die Fragmente der Beobachtungen all der Personen, die sie umgeben, zusammenführen. Ja, ich denke, man kann sie eine Anti-Heldin nennen.

Ihr Roman besteht aus drei Teilen, die ursprünglich separat veröffentlicht wurden. Der erste Part ist aus der Perspektive des Ehemanns geschrieben – ein verabscheuungswürdiger Mann, der seine Frau vergewaltigt, als sie nicht mehr mit ihm schlafen will. Der zweite Teil ist aus der Perspektive von Yeong-Hyes Schwager geschrieben, und der dritte aus der Sicht ihrer Schwester. Sie nehmen nie die Perspektive von Yeong-Hye selber ein. Sie bleibt eine Leerstelle, die immer von anderen beobachtet wird. Was wollten Sie damit erreichen?

Ich fand, das war die einzige Art, auf die sich der seltsamen Weg von Yeong-Hye darstellen ließ. Sie ist sehr entschlossen, und ich konnte ihre Zielstrebigkeit nicht auf gewöhnliche Art und Weise darstellen. Ich habe ihr keine Stimme gegeben. Der einzige Teil, in dem sie selbst spricht, ist im ersten Band, wenn sie ihren Traum erzählt. Die Leser können den Traum auf sich wirken lassen und dann ihren eigenen Vorstellungen folgen.

Yeong-Hye hört auf zu essen. Sie beschreiben das sehr intensiv. Haben Sie jemanden mit Anorexie beobachtet?

Das ist einfach meine Art zu schreiben. Ich versuche zu experimentieren, zusammen mit meinen Figuren zu fühlen. In diesen Roman ist nichts aus meinem persönlichen Leben eingeflossen.

Ist es vielleicht ein Phänomen in der koreanischen Gesellschaft, das Sie interessiert?

Nein, aber "Die Vegetarierin" ist mein dritter Roman. Es gibt eine Figur in meinem zweiten Roman, die an Anorexie erkrankt ist. Darum habe ich ein gewisses Wissen davon. Aber Yeong-Hyes Krankheit ist sehr anders als eine ‚normale‘ Anorexie. Ich habe eine Menge darüber gelesen, um mich für meinen zweiten Roman damit vertraut zu machen.

Der zweite Teil ihres Romans ist aus der Perspektive von Yeong-Hyes Schwager, dem Mann ihrer älteren Schwester, geschrieben. Er ist von der Idee besessen, sie in einem Video zum Kunstwerk zu machen, indem er Blumen auf ihren Körper malt und mit ihr schläft. Es ist eine intensive Passage über Sexualität und Leidenschaft. Warum ist es nur Liebe ohne Liebe?

Ich gebe Ihnen Recht, dass es im Universum dieses Romans keine Liebe gibt. Aber in der letzten Szene schaut Ying-Hye, die ältere Schwester, aus dem Fenster des Krankenwagens. Und ihr Blick drückt Protest aus und das Warten auf eine Antwort. Das ist das Universum dieses Romans.

Jetzt muss ich fragen: Ist der Roman ein Protest gegen Unmenschlichkeit und menschliches Leiden?

Yeong-Hye will nicht mehr zur menschlichen Spezies gehören. Es ist ihr Leiden und ihre Bestimmtheit, die den Kern dieses Buchs ausmachen. Mein Schreiben und meine Fragen sind verflochten, sie gehören zusammen. Ich hoffe, dass alle meine Fragen wahrhaftig und aufrichtig sind.

Han Kang: "Die Vegetarierin", übersetzt von Ki-Hyang Lee, Berlin (Aufbau Verlag) 2016, 190 Seiten