Hanija, der unbekannte Regierungschef
21. Februar 2006Von Ismail Hanija kennt man noch nicht einmal sein genaues Alter: Die Angaben schwanken zwischen vierzig und fünfzig Jahren. Sicher ist jedoch, dass er im "Shati"- ("Strand"-) Flüchtlingslager im Zentrum von Gaza geboren wurde. Seine Familie war 1948 bei der Staatsgründung Israels aus Askalon dorthin geflohen, dem heutigen Ashkelon. Wie die meisten Flüchtlinge aus dem Süden und Südwesten Israels kamen sie in einem Flüchtlingslager unter, wo sie die Jahre der ägyptischen Verwaltung (bis 1967) und die der anschließenden israelischen Besatzung (bis 2005) miterlebten.
Literaturwissenschaftler und Hamas-Aktivist
Ismail Hanija gehörte zu den frühen Studenten der "Islamischen Universität" in Gaza und schloss dort 1987 ein Studium der Arabischen Literaturwissenschaften ab. Während seines Studiums war er bereits unter Studenten aktiv geworden, der Studienabschluss aber fiel in die Zeit, in der die erste "Intifada" ausbrach: Die gerade eben gegründete islamistische Hamas-Bewegung ("Harakat al-muqawama al-islamiyya": "Islamische Widerstandsbewegung") beteiligte sich am Palästinenseraufstand und Hanija schloss sich an.
Schon zu Beginn der Intifada wird Hanija von den Israelis verhaftet, aber bald wieder freigelassen. Wenige Monate später greifen sie ihn erneut auf und stecken ihn für mehrere Monate ins Gefängnis. 1989 wird er erneut verhaftet und diesmal zu drei Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis lernt er – wie so viele andere palästinensische Häftlinge - fließend Hebräisch, seine Entschlossenheit, gegen die Besatzung vorzugehen, ändert sich dadurch aber nicht. Dabei bleibt unklar, ob er unter Besatzung das Regime versteht, das Israel im Sechstagekrieg 1967 im Gazastreifen und der Westbank errichtete oder ob er darunter – wie Hamas es offiziell tut – die Existenz Israels selbst schon als "Besatzung" betrachtet.
Erst deportiert, dann Dekan
Nach Verbüßung seiner dreijährigen Haft wird Hanija zusammen mit rund 400 anderen Hamas-Funktionären, Aktivisten und Anhängern von Israel in den Südlibanon deportiert. Die israelische Regierung hofft, die "Störenfriede" damit loszuwerden. Das Gegenteil aber tritt ein: Die Deportierten beginnen, bei Marj el-Zahour im Südlibanon zu kampieren, sie stehen dort im medialen Interesse der Welt und sie werden betreut von "Hisbollah – einer von Syrien und dem Iran unterstützten Islamisten-Organisation im Libanon.
Nach mehr als einem Jahr lässt Israel die Deportierten zurück. Hanija kehrt nach Gaza zurück, wo er 1993 Dekan der Islamischen Universität wird. Nach einem missglückten Mordanschlag auf den heutigen Hamas-Auslandschef, Khaled Mashal, muss Israel 1997 der Freilassung des seit acht Jahren inhaftierten Hamas-Führers, Scheich Ahmed Yassin, zustimmen und als dieser triumphierend nach Gaza zurückkehrt, beruft er Ismail Hanija zu seinem persönlichen Assistenten.
Auf Israels Abschussliste
Die Nähe zu Yassin steigerte Hanijas Ansehen unter den Palästinensern, aber auch seine Gefahr: Israel hatte begonnen, die Führer der Hamas systematisch durch "gezielte Tötungen" auszuschalten. Im September 2003 bombardierten israelische Hubschrauber ein Wohnhaus, das Yassin und Hanija allerdings im letzten Augenblick leicht verletzt verlassen konnten.
Ein halbes Jahr später ermordeten die Israelis Yassin und wenige Monate darauf dessen Nachfolger, Rantisi. Hanija ging in den Untergrund und wurde – zusammen mit anderen aus der Libanon-Zeit Mitglied des geheimen Kollektiv-Vorstandes der Hamas.
Er wollte nicht ganz nach vorne
Der kultivierte Hanija tritt moderat und pragmatisch auf. So hatte er bereits 1996 für eine Teilnahme von Hamas an den Wahlen plädiert, erst jetzt konnte er sich durchsetzen. Sein Ziel dürfte gewesen sein, die Organisation in die PLO einzubringen und dann langsam Programm und Ziel zu ändern. Der überwältigende Sieg der Hamas im Januar 2006 dürfte auch ihn überrascht haben, denn der Spitzenkandidat von Hamas hatte eine Beteiligung an der Macht angestrebt, nicht aber die Macht selbst. Wie so oft im Leben des Ismail Hanija: Es kam anders und Hanija wird nun palästinensischer Regierungschef.