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Hat Deutschland eine "Lügenpresse"?

Wolfgang Dick30. Oktober 2015

Nach einer Umfrage des Forsa-Institutes stimmen 44 Prozent der Befragten ganz oder in Teilen zu, es gebe eine "Lügenpresse", wie es die Pegida-Bewegung behauptet. Medienexperten prüfen, was daran wahr sein könnte.

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Unwort des Jahres "Lügenpresse" - Pegida in Villingen-Schwenningen 12.01.2015
Bild: picture-alliance/dpa/M. Eich

Medien in Deutschland würden "von ganz oben gesteuert" und daher "geschönte und unzutreffende" Berichte verbreiten - dieser Meinung war beinahe jeder zweite der aktuell vom Meinungsforschungsinstitut Forsa repräsentativ ausgewählten rund 1000 befragten Bundesbürger. Die Flüchtlingsbewegung beherrscht die Medienberichterstattung, gleichzeitig erleben die Deutschen das Thema "live" in der eigenen Umgebung. Seitdem ergeben sich offenbar deutliche Unterschiede in der Wahrnehmung von Bürgern und der Darstellung von Journalisten. Ob es diese Differenzen wirklich gibt und wie groß sie inzwischen sind, beschäftigt Medienexperten bereits seit den Veröffentlichungen des früheren Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin, der die Integration von Zuwanderern in Deutschland als "gescheitert" bezeichnete. Der mediale Shitstorm, der sich über das SPD-Mitglied ergoss, war enorm. Das wiederholte sich infolge der Berichte über die islamkritische Pegida-Bewegung.

"Wir leben weit entfernt von einer Meinungsfreiheit", sagte Norbert Bolz, Kommunikationsforscher an der TU Berlin dazu im Rahmen eines Fernsehinterviews. Es sei eine Sache, immer gute Beispiele von sehr gut integrierten Migranten in der Presse zu zeigen. Aber zum vollständigen Bild gehöre auch, über negative Entwicklungen zu berichten. Das geschehe aber beim Thema Zuwanderung nicht immer und lasse den Verdacht von Manipulationen aufkommen. Viele Medien seien seinen Beobachtungen zufolge von einem linksintellektuellen Diskurs geprägt. "Ausgerechnet die, die früher für Aufklärung, Presse- und Meinungsfreiheit kämpften, sind heute die großen Tabumächte", beklagt Bolz. "Zur Meinungsfreiheit gehört aber vor allem der Respekt vor Andersdenkenden." Den vermisse er häufig. Bolz wird von Praktikern aus der Branche bestätigt.

Verntwortliche zum Bürgerentscheid Olympia 2022 von Kameras umringt. Foto: Peter Kneffel/dpa
Viele Medienvertreter bieten offenbar nicht die vom Bürger gewünschte Meinungsvielfalt abBild: picture-alliance/dpa

Vorverurteilung oder Weglassen

Nachdem er in seinem Internet-Blog Kritisches über den russischen Präsidenten Putin schrieb, erfuhr der Publizist Roland Tichy eine Protestwelle von Putin-Anhängern. "Man versuchte, uns niederzuwalzen". Viele Journalisten hätten angesichts solcher Mechanismen aufgehört, sich zu wehren. Das sei ein Fehler. Tichy, der erfahrene Diplom-Volkswirt, Chefredakteur mehrerer großer Wirtschaftspublikationen und heutige Vorstandsvorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung, präsentierte auf einer Veranstaltung des Instituts noch weitere Beispiele zum Thema "Medien und Wahrheit". "Die Grenzen zwischen Lügen, Verschweigen und Selbstzensur sind fließend."

Roland Tichy Foto: WiWo
Roland Tichy: "Im Internet wird zurückgeschrieben"

Beispiel Sebnitz: In dem sächsischen 8000-Einwohner-Ort, in dem Rechtsradikale immer wieder für Schlagzeilen sorgten, verunglückte der Sohn eines deutsch-irakischen Apotheker-Paares tödlich. Sofort hieß die Schlagzeile: "Neonazis ertränken Kind." Die Wahrheit: Es handelte sich um einen Badeunfall nach einem Herzleiden des Jungen. Eine Zeitung, die über die wahren Umstände berichtete, schrieb dennoch sinngemäß: So,wie die Stimmung in Sebnitz sei, hätten aber Neonazis die Täter sein können.

Es geht in den Medien vor allem um die Wortwahl: Die BBC World meldete: "In Den Haag wurde der niederländische Politiker Geert Wilders vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen." Die deutsche Tagesschau sprach in dem Zusammenhang vom "islamfeindlichen und rechtspopulistischen Politiker Geert Wilders".

Deutsche Journalisten haben nach einem internationalen Vergleich der Ludwig-Erhard-Stiftung ein anderes Selbstverständnis als ihre Kollegen im Ausland. Tichy: "Sie sind Propheten einer Sache, und sie kämpfen für etwas, statt über etwas zu berichten."

Beispiel Worte und Bilder: Antifaschisten mit Knüppeln in der Hand hatten auf Polizisten eingeprügelt. In einer Bilderstrecke sah man aber nur Pegida-Demonstranten auf Polizisten zugehen. Tichy dazu: "Pegida-Anhänger 'grölen' immer, die Gegenbewegung 'ruft' nur."

Beispiel Täterbeschreibungen: Per Gerichtsbeschluss sei Tichy verboten worden, den Namen eines Wirtschaftsbetrügers zu nennen, der nach einer verbüßten Haftstrafe wieder anfing, Anleger mit dubiosen Ölaktien zu gewinnen. "Hier erleben wir eine Spannung, in der Journalisten gezwungen sind, die Wahrheit nicht mehr zu sagen", klagt Tichy. Über die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit von überführten und verurteilten Straftätern dürfe er als Journalist auch nur in Ausnahmefällen schreiben, so will es der Kodex des Presserates. "Ist das jetzt Schutz oder Zensur?", fragt der Medienfachmann.

Zeitungsverkauf in Buchhandlung Foto: PHILIPPE HUGUEN/AFP/Getty Images)
Pressevielfalt am KioskBild: GettyImages/AFP/P. Huguen

Internet bietet Vergleiche

Mit der verstärkten Nutzung von Internetquellen und der Vernetzung in sozialen Medien könne das, was die Medien berichten, umgehend verglichen und ausgetauscht werden. Die Deutungshoheit der Journalisten sei vergangen, sagen viele der führenden Medienwissenschaftler. Vor allem Blogs offenbarten auch Gedanken, die nicht vom Mainstream der Hauptmedien abgedeckt würden. Dies werfe verstärkt Zweifel auf, ob immer wahrheitsgemäß berichtet werde.

"Es ist auf jeden Fall zu einfach, den Vorwurf der Lügenpresse in die rechtspopulistische Ecke abzutun." So äußert sich Lutz Hachmeister, Kommunikationswissenschaftler und langjähriger Leiter des Adolf-Grimme-Instituts, im DW-Interview. Für den Vorwurf gebe es eine Grundlage: "Es gibt Eliteverflechtungen zwischen Journalismus, Politik und Industrie. Das fällt den Leuten natürlich auf. Die denken dann, diese Eliten hängen irgendwie zusammen, sind verflochten und verfilzt und informieren uns nicht korrekt, nicht unabhängig genug." Lutz Hachmeister hat in seinen Publikationen immer wieder über diese Eliteverflechtungen geschrieben. Anzutreffen sei diese Verflechtung zum Beispiel im öffentlich-rechtlichen Sendersystem. Ein Höhepunkt: 2014 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Strukturen der Aufsichtsgremien des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) für gesetzeswidrig.

Lutz Hachmeister Foto: Jim Rakete, HMR
Lutz Hachmeister: "Wohlfühl-Journalismus bringt nichts"Bild: Jim Rakete

Alles von oben gesteuert ?

Steuern die Eliten die Presse in Deutschland? "Das ist eine Verschwörungstheorie, die so nicht stimmt", meint Hachmeister, "aber es stellt sich schon die Frage, wann was berichtet wird und wann über Dinge erst mal nicht berichtet wird." Das entscheide sich oft nach den bestehenden Verflechtungen der Medienhäuser mit gesellschaftlichen Eliten. "Da merkt das Publikum schon, dass es weniger Unabhängigkeit gibt, als die Presse gerne von sich selbst behauptet", stellt Hachmeister fest. Seitdem sich die politischen Polaritäten abgeschliffen hätten, gebe es definitiv auch weniger "Gatekeeper" in den Medien, die bestimmte Berichte anordnen oder Tendenzen vorgeben würden, so Hachmeister.

Dennoch hielten schon vor einem Jahr in einer Umfrage des britischen Markt- und Meinungsforschungsinstituts YouGov 47 Prozent der befragten Deutschen die Berichte über den Ukraine-Konflikt für einseitig. Nur 40 Prozent glaubten an eine objektive und unabhängige deutsche Presse.