Hat ein Oktopus Gefühle?
25. März 2022Octavia, ein Oktopus im New England Aquarium in Boston, lag im Sterben. Tierpfleger hatten sie vom großen Ausstellungsaquarium in ein ruhigeres, dunkles Becken verlegt, das einer Oktopus-Höhle ähnelte - dem Ort, an den die Tiere sich in der Wildnis begeben, wenn sich ihr Leben dem Ende zuneigt.
Ihre Freundin Sy Montgomery wollte sich verabschieden.
Die Autorin zahlreicher Bücher über die Beziehung von Mensch und Tier kannte Octavia seit mehreren Jahren. Sie hatte sie unzählige Male gefüttert und mit ihr gespielt, als Teil der Recherche für ihr Buch Rendezvous mit einem Oktopus. In dem Buch, das auf Deutsch 2017 erschien, schreibt Montgomery über die beeindruckende Intelligenz der Tiere, und erzählt von ihrer Freundschaft mit vier sehr unterschiedlichen Oktopoden.
Im DW-Interview sprach Montgomery über ihre letzte Begegnung mit Octavia.
"Sie war krank, sie war alt und sie stand offensichtlich kurz vor dem Tod", sagte Montgomery. "Ich kam an ihr Becken und sie schwamm an die Oberfläche, um mich zu sehen. Und nicht, weil sie hungrig war - ich gab ihr einen Fisch und sie nahm ihn und ließ ihn fallen. Sie hatte die Anstrengung auf sich genommen, vom Grund des Beckens an die Oberfläche zu kommen, um mich zu sehen und mich zu berühren. Sie legte ihre Saugnäpfe um meinen Arm, sah mir ins Gesicht und hielt mich so minutenlang."
Das geschah nach etwa zehn Monaten, in denen Octavia zurückgezogen in ihrer Octopus-Höhle gelebt und keinerlei Kontakt zu Montgomery gehabt hatte. Für ein Tier, das nur drei bis fünf Jahre lebt, "sind 10 Monate wie Jahrzehnte", sagt Montgomery.
Kurz nach dieser Begegnung verstarb Octavia.
Emotionen, nicht nur Reflexe
Die Verabschiedung von Octavia ist einer von vielen Momenten, die Montgomery mit Oktopoden erlebt hat und auf Grund derer sie sich sicher ist: Diese Tiere haben Emotionen. Ihre Ansicht beruht auf persönlichen Erfahrungen. Aber Montgomery steht damit bei weitem nicht allein da.
Auf dem Gebiet der Bewusstseinsforschung bei Tieren sind sich Experten einig: Oktopoden sind empfindungsfähige Wesen, die Schmerz fühlen und aktiv versuchen, ihn zu vermeiden.
Auch Kristin Andrews und Frans de Waal schreiben in einer neuen Studie im Fachmagazin Science, dass viele Tiere, darunter auch Kopffüßer wie der Oktopus, Schmerz fühlen können. Aber sie reagieren darauf nicht nur reflexartig, wie beispielsweise ein Kind, das seine Hand von einer heißen Herdplatte zieht. Diese reflexartige Reaktion auf schmerzhafte Reize heißt Nozizeption.
In Oktopoden konnte man Verhaltensweisen beobachten, die weit darüber hinaus gehen, sagen Andrews und de Waal. Für ihren Artikel hatten sie Forschungsergebnisse der vergangenen 20 Jahre ausgewertet.
"Nozizeption erreicht nicht zwangsläufig das zentrale Nervensystem und das Bewusstsein eines Lebewesens", schreiben sie in Science. Ein Tier könne so zwar möglicherweise Schmerzen vermeiden, verbinde damit aber keine Gefühle.
Aber Oktopoden vermeiden Orte, an denen sie in der Vergangenheit Schmerzen erfahren haben, selbst wenn ihnen dort aktuell keine Schmerzen drohen.
Das, so erklären Andrews und de Waal, liege daran, dass die Tiere sich an den Schmerz erinnern, den sie an diesem Ort gefühlt haben und ihn als etwas verarbeitet und gespeichert hätten, das sie in Zukunft vermeiden möchten. Sie haben Erinnerungen an die Schmerzen, die ihnen zugefügt wurden.
Der Unterschied zwischen Emotionen und Gefühlen
Wenn Forscher sich mit dem Innenleben von Tieren beschäftigen, unterscheiden sie zwischen Emotionen und Gefühlen.
Emotionen, schreiben Andrews und de Waal, seien "messbare physiologische und/oder neuronale Zustände, die häufig im Verhalten reflektiert werden".
Zu den Dingen, die dabei gemessen oder beobachtet werden, gehören beispielsweise eine erhöhte Körpertemperatur, die Ausschüttung von Neurotransmittern oder Hormonen - und auch das Verhalten eines Tieres, das sich von dem Ort fernhält, an dem ein Wissenschaftler es einige Tage zuvor gepiesackt hat.
Gefühle spielen sich noch eine Ebene tiefer ab. Menschen teilen sie oft verbal mit. Wir sagen Dinge wie "Ich freue mich" oder "Das macht mich wütend". Tiere können uns ihre Gefühle so nicht mitteilen. Das bedeutet aber nicht, dass sie keine haben.
Im DW-Interview sagt Andrews, dass Wissenschaftler in ihrer Arbeit auch die Gefühle von Tieren berücksichtigen sollten, nicht nur die messbaren Emotionen.
"Das 'Hurra!' der Freude, die tiefe, bodenlose Verzweiflung der Traurigkeit, Gefühle von Schmerz, Gefühle von Wohlbehagen, von Sonne auf unserer Haut - all das können wir bei Tieren nicht messen", erklärt Andrews, Leiterin des Forschungsbereichs Animal Minds an der York University in Toronto, Kanada. "Aber bei Menschen können wir das auch nicht."
Montgomery schlägt in die gleiche Kerbe. Natürlich wisse sie nicht, welche Gefühle im Spiel sind, wenn ein Oktopus an die Wasseroberfläche schwimmt, um sanft einen seiner Arme um ihren zu wickeln. Aber hineinschauen kann man schließlich in keine Kreatur - auch in andere Menschen nicht.
"Ich weiß nicht, was Oktopoden in ihrem tiefsten Herzen fühlen", sagt Montgomery. "Aber ich weiß auch nicht, was mein Ehemann wirklich fühlt, ob sich Glück für ihn genauso anfühlt, wie für mich."
Wichtiger Schritt fürs Tierwohl
Großbritannien hat bereits akzeptiert, dass Oktopoden und ihre Verwandten empfindsame Kreaturen sind, die ein Bewusstsein haben und sich an Schmerzen erinnern können.
Kopffüßer wie Oktopoden und Zehnfußkrebse wie Langusten, Hummer und Krabben werden in einem neuen Tierschutzgesetz berücksichtigt, das aktuell im britischen Parlament verhandelt wird.
Jonathan Birch von der London School of Economics leitete ein Team, das sich mehr als 300 Studien angesehen hatte, um den Abgeordneten vor Verfassen des Gesetzes eine Empfehlung auszusprechen.
"Die Fakten sprachen dafür, dass die Tiere empfindsam sind", sagte Birch im DW-Gespräch. "Wir haben die Aufnahme all dieser Tiere ins neue Tierschutzgesetz empfohlen. Besonders klar war die Sachlage beim Oktopus."
Birch sagt, dass es für Menschen schwer sei, sich in Tiere wie Langusten oder Oktopoden einzufühlen, "weil sie so anders aussehen als wir und wie Kreaturen von einem anderen Stern scheinen".
"Das bedeutet aber nicht, dass man keine Empathie mit ihnen empfinden kann und dass diese Tiere keine Gefühle haben", sagt er. "Wir müssen uns da von der Wissenschaft leiten lassen."