Hate Speech: Betroffen sein heißt nicht Opfer sein
27. Oktober 2020Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt Hate Speech wie folgt: "Wenn Menschen abgewertet, angegriffen oder wenn gegen sie zu Hass oder Gewalt aufgerufen wird, spricht man von Hate Speech." Hate Speech sei zudem "ein Oberbegriff für das Phänomen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit oder Volksverhetzung im Internet und Social-Media-Räumen."
Eine immer größer werdende Zahl an Menschen ist mittlerweile von Hate Speech betroffen - sei es in Form von Mobbing an Schule und Arbeitsplatz oder durch sexistische, rassistische, trans- oder homophobe Beschimpfungen in Internetforen.
Jeder Zwölfte persönlich von Hassrede betroffen
2020 gaben bei der jährlichen Umfrage der Landesanstalt für Medien NRW zur Wahrnehmung von Hassrede im Netz 94 Prozent der Befragten im Alter von 14 bis 24 Jahren an, bereits Hassrede im Internet wahrgenommen zu haben. Bei der bisher größten bundesweiten Befragung zu Hassrede des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena (IDZ) gaben acht Prozent der Befragten an, persönlich betroffen zu sein. Die Mehrheit davon bestätigte negative Auswirkungen dieser Erfahrungen, darunter emotionalen Stress, Angst und Unruhe, Depressionen sowie Probleme mit dem Selbstbild.
Nicht nur die Zahl, sondern auch die Intensität der Schmähungen ist in den letzten Jahren gestiegen. Neben derben Beleidigungen werden in Foren oder Kommentaren auch immer wieder Mord- und Vergewaltigungsfantasien oder Drohungen wie "Wir wissen, wo deine Kinder zur Schule gehen" formuliert. Mittlerweile sehen auch immer mehr Politiker zwischen dem Anstieg der Hassrede in sozialen Netzwerken und physischer Gewalt eine Verbindung. Die von rechtem Hass motivierten Attentate in Christchurch und Halle oder der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der sich für Flüchtlinge eingesetzt hatte, stehen beispielhaft dafür.
Was steckt hinter dem Anstieg?
"Wir sehen es als Erfolg, dass Hassrede als Thema in der Mehrheit angekommen ist", sagt Oliver Saal. Er ist Historiker und Projektmitarbeiter der von der Amadeu-Antonio-Stiftung initiierten Initiative Civic.net, die Organisationen im Umgang mit Hassrede schult. Saal sieht einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen rund um die Fluchtbewegungen im Jahr 2015, dem weltweiten Siegeszug der Populisten und dem wachsenden Hass im Netz: "In den letzten fünf Jahren hat sich die Bereitschaft gesteigert, Menschenfeindlichkeit in den sozialen Netzwerken zu artikulieren, zum Beispiel in flüchtlingsfeindlichen Foren."
Die Funktionsweise von Facebook, Twitter und Co. wirke dabei wie ein Brandbeschleuniger: "Soziale Netzwerke sind algorithmisch so gebaut, dass sie besonders krasse Aussagen verstärken, die extreme Reaktionen in Form von Likes hervorrufen. Das Netzwerk geht davon aus, dass es sich um einen sehr relevanten Beitrag handelt, dadurch bekommt er viel Sichtbarkeit. Da liegt technisch der Hase im Pfeffer."
Antisocial Media
Auch Julian Wiehl sieht das Problem in der "Belohnungsgesellschaft". Und er fügt hinzu: "Soziale Medien geben uns das Gefühl eines Werts, der in Wahrheit keiner ist." Als Geschäftsführer der Wiener Agentur "Vangardist", die unter anderem ein progressives Männermagazin jenseits von Gendernormierungen herausbringt, beschäftigt er sich seit Jahren mit Homophobie und kennt die Zusammenhänge zwischen Aktion und Reaktion in den sozialen Medien. 2015 erschien eine Sonderausgabe des "Vangardist"-Magazins, gedruckt mit dem Blut HIV-infizierter Menschen, um ein Statement gegen deren Stigmatisierung zu setzen. Die Aktion sorgte für internationale mediale Aufmerksamkeit - und gewaltige Shitstorms zugleich.
"Wir sind zu emotionalen Junkies geworden, deren Selbstwert von der Response abhängt", sagt Wiehl. Das Zwischenmenschliche bleibe dabei immer wieder auf der Strecke. "Soziale Medien sind der Versuch, soziale Interaktion auf den reinen Austausch von Information zu beschränken. Man kann den anderen über soziale Medien in seiner Gesamtheit aber gar nicht erfahren. Ein Flüchtling zum Beispiel ist so kein Mensch mehr, sondern eine Information - ein Objekt."
Betroffene gehen in die Offensive
Viele Betroffene wollen ihr Netz-Dasein nicht mehr als Objekte im Spiel einer hasserfüllten Meute fristen. Das zeigt sich mittlerweile sehr deutlich: Hasskommentare werden heute sehr viel häufiger gemeldet, vor allem von Jüngeren. Laut der oben genannten NRW-Studie haben doppelt so viele 14-24-Jährige als vor fünf Jahren Hate Speech angezeigt.
Der Grund dafür ist eine größere Sensibilität in den Medien für das Thema sowie eine Vielzahl wirkungsvoller Initiativen. So bietet Civic.net Seminare, Fortbildungen und Workshops an, in denen Journalisten, PR-Leute oder Betreuer von Social-Media-Accounts zivilrechtlicher Organisationen Strategien im Umgang mit Hassrede lernen. Auf europäischer Ebene übernimmt diese Arbeit das #NoHateSpeech Movement, eine große, länderübergreifende Kampagne des Europarats. Auf der Homepage finden Betroffene jede Menge Rüstzeug gegen Hate Speech, bis hin zu passenden Memes. #ichbinhier ist eine Facebook-Gruppe mit mehr als 44.000 Mitgliedern, die im Kollektiv überall da Gegenrede übt, wo gerade ein Netz-Sturm tobt.
Es gibt auch Wege, dem Hass im Netz schon vor seiner Entstehung entgegenzuwirken und für mehr Verständnis für bestimmte Bevölkerungsgruppen zu werben. So betreibt zum Beispiel der afrodeutsche Medienstudent Dominik Lucha ein Instagram-Profil mit dem Titel #wasihrnichtseht, auf dem er die alltäglichen Anfeindungen postet, denen schwarze Menschen in Deutschland ausgesetzt sind.
Gegenrede als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Zu den Betroffenen, die sich seit Jahren öffentlich gegen Hassrede im Netz wehren, gehört auch die Grünen-Politikerin Renate Künast. Sie versuchte 2019 gerichtlich gegen die Autoren extremer Hassposts vorzugehen, ihr Gesuch wurde damals in einem höchst umstrittenen Urteil abgelehnt. Künast gab sich damit nicht zufrieden und stritt weiter - mit Erfolg. Mittlerweile gehört sie zu den prominentesten Vertreterinnen im Kampf gegen Hate Speech.
"Als Gesellschaft müssen wir uns ernsthaft fragen, wie wir miteinander umgehen wollen", so Künast gegenüber der DW. "Ich finde, wir müssen zu einem Diskurs zurückkommen, bei dem wir uns mit Argumenten über Inhalte streiten und persönliche Herabwürdigungen aus Debatten verbannen. Das Netzwerk der Rechtsextremen ist enorm groß, das braucht jetzt eine ebenso große gemeinsame Gegenkampagne. Der Respekt vor der Würde jedes anderen muss eben auch als gültiges Prinzip im Alltag immer wieder neu erkämpft werden."
Befreiung aus der Schockstarre
Langsam scheint die Zivilgesellschaft aus der anfänglichen Schockstarre gegenüber der gewaltigen Welle an Hass zu erwachen, die in den letzten Jahren im Netz entstanden ist. Immer mehr Betroffene sind sich der Thematik bewusst, suchen Hilfe oder entwickeln eigene Strategien, wie sie mit dem Hass umgehen.
Doch es gibt noch immer sehr viel zu tun, und viele Betroffene fühlen sich noch immer allein gelassen oder machtlos gegenüber digitalen Attacken. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Rechtsextreme und andere Hetzer bald nicht mehr so leicht beim Verbreiten ihrer Hassreden beobachten lassen. Immer mehr von ihnen wandern von Facebook und Twitter zum Kurznachrichtendienst "Telegram" ab, wo sie in Chatgruppen weitgehend unbeobachtet agieren können.