Serie: Krieg der Propaganda: Heilige Krieger
22. Juli 2014Einen gewaltigen Tritt mit dem Stiefel erhält diese prall gefüllte Hutschachtel auf einer französischen Propagandakarikatur aus dem Jahr 1915. In hohem Bogen fliegen viele kleine, rote Kopfbedeckungen, "Fes" genannt, mit ihren charakteristischen Quasten in die Luft. Für die Zeitgenossen war der Fes problemlos politisch zu verorten: Gemeint war damit das Osmanische Reich. Und noch eine europäische Macht bekommt diesen gewaltigen Tritt ab: "Made in Germany" steht auf der Hutschachtel. Deutschland und das Osmanische Reich waren im Ersten Weltkrieg Verbündete. Doch das Osmanische Reich erhält auf dieser Karikatur nicht nur einen symbolischen Tritt – hinter dem überdimensionalen Fuß folgt eine Flotte von Kriegsschiffen, die nun Kurs auf das Osmanische Reich nehmen.
Landung auf Gallipoli
Tatsächlich landeten 1915 Truppen der "Entente" auf der Halbinsel Gallipoli nicht weit entfernt von der osmanischen Hauptstadt Istanbul. Eine Position, deren strategische Bedeutung kaum zu überschätzen ist: Durch den Bosporus und die Dardanellen kontrollierte das Osmanische Reich die Durchfahrt zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer. Ein gigantisches Trommelfeuer von Schiffsgeschützen auf die türkischen Stellungen leitete deshalb am 25. April 1915 die Invasion von britischen und französischen Einheiten auf Gallipoli unweit der Dardanellen ein.
Die obige Propagandakarikatur sollte den Soldaten und den Menschen in Frankreich Mut machen – mit einem einzigen Tritt, so die Botschaft, würde die britisch-französische Streitmacht die osmanischen Soldaten einfach hinwegfegen. Diese Annahme erwies sich jedoch als ein folgenschwerer Irrtum. Als die Franzosen und Briten Anfang 1916 ihre Truppen abzogen, hatten sie eine verheerende Niederlage erlitten. Über 260.000 Mann waren gefallen oder den katastrophalen Seuchen zum Opfer gefallen.
"Der kranke Mann am Bosporus"
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hätte niemand das Osmanische Reich für kriegsbereit gehalten. Seit Jahrzehnten galt die einstige Großmacht als "kranker Mann am Bosporus": Russland, Frankreich und Großbritannien stritten sich immer wieder um Teile des verbliebenen Osmanischen Reichs. Aus diesem Grund verbündete sich Konstantinopel im Jahr 1914 mit dem Deutschen Reich – die Deutschen stellten keine territorialen Forderungen und versprachen großzügige Unterstützung.
Am 29. Oktober 1914 beschossen türkische Kriegsschiffe russische Häfen – das Osmanische Reich war in den Krieg eingetreten. Zwar war das Land militärisch unzureichend auf den Konflikt vorbereitet. Doch nutzte der osmanische Sultan eine propagandistische Waffe aus: Als nomineller Nachfolger des Propheten Mohammed rief Sultan Mehmed V. im November 1914 den "Heiligen Krieg" aus. Alle Muslime, die unter französischer, britischer oder russischer Herrschaft standen, sollten sich erheben gegen ihre "ungläubigen" Besatzer.
Aufruf zum "Heiligen Krieg"
"Stürzt euch wie die Löwen auf den Feind!", verkündete der Sultan. "Lasst nicht einen Augenblick ab von Energie und Opferfreudigkeit auf dem Pfade dieses gesegneten Glaubenskampfes, den wir gegen die Feinde eröffneten, welche unsere Religion und unser teures Vaterland bedrohen!" Auch die Deutschen setzten große Hoffnungen auf den Aufruf zum Heiligen Krieg, der die britischen und französischen Kolonien mit muslimischer Bevölkerung in Aufruhr versetzen sollte. Doch in der muslimischen Welt verhallte der Appell des osmanischen Sultans fast ungehört.
Im Gegenteil, viele arabische Stämme rebellierten gegen die osmanische Herrschaft. Unter Führung des britischen Offiziers Thomas Edward Lawrence, genannt "Lawrence von Arabien", kam es zu einem regelrechten Guerillakrieg zwischen den osmanischen Truppen und arabischen Aufständischen.
Besuch vom Kaiser
Für die Deutschen war das Osmanische Reich ein wichtiger Bündnispartner, der auch propagandistisch unterstützt werden musste. 1917 besuchte Kaiser Wilhelm II. Konstantinopel und begrüßte die dortigen Würdenträger in der Uniform eines osmanischen Marschalls. Auf Propagandapostkarten wurde dieses Ereignis verbreitet. Siegesgewiss schaut Wilhelm II. seine Gesprächspartner an und verbreitete auf diese Weise Hoffnung für das bedrängte Osmanenreich. Zugleich verschloss der deutsche Kaiser seine Augen vor einem monströsen Verbrechen seiner osmanischen Verbündeten: dem Genozid an der armenischen Minderheit im
Weil sie sich vorgeblich der „Illoyalität zum Osmanischen Reich“ schuldig gemacht hätten, so die offizielle Hetze, wurden seit April 1915 Hunderttausende Armenier erschossen, auf Todesmärsche geschickt oder starben an Misshandlungen, Hunger und Seuchen. Bis zu 1,5 Millionen Armenier fielen diesem Völkermord zum Opfer. Die deutschen Bündnispartner indes scherten sich nicht darum: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht", befand kaltherzig der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Tatsächlich stand das Osmanische Reich bis 1918 an der Seite Deutschlands – und verlor mit seinem Bündnispartner den Krieg. Aber erst 1922 endete die jahrhundertealte Geschichte des Osmanischen Reichs – die moderne Türkei entstand.