Heimito von Doderer: "Die Dämonen"
6. Oktober 2018Der Beifall war enorm, nachdem Heimito von Doderers zweiter großer Wien-Roman 1956 erschienen war. "Es gibt richtige Heimitisten", stellte der Schriftsteller fasziniert fest, als seine Erzählkunst von Kritikern in eine Reihe mit der von Dante, Tolstoi, Balzac und Dostojewski gestellt wurde. Ein Jahr später, bei der zweiten Auflage seiner "Dämonen" prangte Doderers Porträt auf dem "Spiegel", und die dazugehörige Titelstory füllte viele Seiten. Der Autor galt als heißer Kandidat für den Literaturnobelpreis.
Er bekam ihn nicht. Dessen ungeachtet gehören "Die Studlhofstiege" und "Die Dämonen" zu den bedeutendsten Großstadtromanen des 20. Jahrhunderts. Heimito von Doderer verstand den modernen Roman als das eigentliche Kunstwerk seiner Zeit, episch breit, groß angelegt. Monumental wie eine Weiterentwicklung des gotischen Kathedralenbaus, analysiert der Wiener Literaturkritiker Klaus Nüchtern in seiner Studie zum Autor Doderer.
Ein Roman wie eine Kathedrale
Und wie ein gewaltiges Bauwerk hat Heimito von Doderer seinen Roman auch geplant. Entworfen hat er ihn mit Hilfe von Architekturzeichnungen und ähnlichen Plänen, in denen er alle Bezüge und Details penibel verzeichnet hat. Eine solch systematische Arbeitsweise war vielleicht auch notwendig: Auf fast 1400 Seiten entwirft er ein Panorama Wiens in den späten zwanziger Jahren, das Bild einer Stadt mit all ihren unterschiedlichen Straßen und Wohnungen, Kaffeehäusern, Weinschänken, Palästen, Gärten, Bibliotheken und Zeitungsredaktionen.
Bevölkert ist dieses Roman-Wien von hunderten Figuren. Etwa fünfzig von ihnen folgt der Chronist in ihrer Entwicklung, ein wunderbarer Reichtum an Personal quer durch alle gesellschaftlichen Schichten, Gestalten des Großbürgertums und des Adels, Intellektuelle und Arbeiter, Typen der Halb- und Unterwelt. Es finden sich Huren und Salondamen neben Bankern und reichen Erbinnen. Polizisten suchen einen Mörder, junge Wissenschaftler ihren Weg, Zeitungsredakteure eine skandalträchtige Geschichte. Die ganze Bandbreite von Existenzen, die die Hauptstadt des ehemaligen k.u.k.-Reiches um das Jahr 1927 aufzubieten hat, findet sich in immer wieder neuen Situationen.
Chronistensicht: aus der Zukunft in der Vergangenheit auf die Zukunft
Einen einzigen durchgehenden Handlungsstrang hat dieses Opus nicht, es gibt unzählige Verzweigungen. Zusammengehalten werden sie von einem Chronisten, der aus der Autorengegenwart der Fünfziger Jahre zurückblickt ins Jahr 1927. Er selbst war Teil des Geschehens, während sich seine In-group, "Die Unsrigen", Tee trinkend durch die Tage quasselte, nächtens durch die Bars trieb, dicke Frauen bewunderte, sado-masochistischen oder homoerotischen Neigungen nachging.
"Nach der Chronik des Sektionsrates Greyenhoff", so steht es im Untertitel, und es ist natürlich kein Zufall, dass es auch bei Dostojewskis 1873 veröffentlichten Roman "Die Dämonen" einen Chronisten gibt, der meist mit G...ff. abgekürzt wird. In Doderers Monumentalwerk ermöglicht dieser Berichterstatter eine erhellende Um-die -Ecke-Perspektive: Er blickt zurück auf die Innensicht, aus der heraus seine Freunde und er - die Generation des Ersten Weltkriegs - damals in die ungewisse Zukunft schauten.
"Jemand hatte offenbar eine Bemerkung gemacht in der Richtung, dass man irgendeine Zeitenwende spüre, dass jene Periode, welche unmittelbar nach dem Kriege eingesetzt habe, nun an ihrem Ende sei; man hörte die Worte 'unfruchtbare Revolutionäre' und 'gänzliche Erstarrung dieser ganzen Geisteshaltung', und bei alldem entstand überraschenderweise ein erhebliches Geschrei."
Krachender Schlusspunkt, positiver Gegensatz
Das Buch läuft auf einen krachenden Schlusspunkt hinaus, die Arbeiterunruhen und den Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927. "Inzwischen brannte das riesige Gebäude gegenüber immer lichter und loher, Justitia in Flammen, ..." Im Kontrast zu dieser Katastrophe lösen sich gleichzeitig die Probleme der "Unsrigen", sie finden zueinander, heiraten, bekommen die fast verpasste Erbschaft doch noch, versöhnen sich, und der Mörder kommt im Wiener Kanalsystem um.
Heimito von Doderer hat 1930 mit der Ausarbeitung des ersten Teils seines Romans begonnen. Damals empfahl er sich der Reichsschrifttumskammer, trat früh der NSDAP bei. Doch sein Flirt mit den Nazis dauerte nicht lange, ehe er seine Zuflucht beim Katholizismus suchte. Thema des ersten Teils ist die "Zerreißung der Wiener Gesellschaft durch den totalitär werdenden Antisemitismus", so beschrieb es der Autor selber in einer Tagebucheintragung von 1940.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg vollendete Doderer sein großartiges Zeitpanorama. In der Zwischenzeit hatte er mit der "Strudlhofstiege" schon einen umfangreichen Roman vorgelegt, dessen Erzählung im Jahr 1926 endete. Es ist ein Vorläufer der "Dämonen", einige der Strudlhof-Figuren finden sich auch hier wieder.
Eine große menschliche Komödie
All die Gespräche zwischen den Romanfiguren, das viele Gerede, seitenlange ernste, witzige, freche Dialoge machen die Atmosphäre der österreichischen, der europäischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit wieder lebendig. Mit einer Sprachkraft, deren Tonspanne von flapsig über satirisch bis zum Latein reicht, hat Heimito von Doderer eine barocke, humorvolle menschliche Komödie erschaffen.
Heimito von Doderer: "Die Dämonen" (1956), erhältlich als Taschenbuch bei dtv, Hardcover bei C.H. Beck
Heimito von Doderer (1896-1966) wuchs als Sohn eines Architekten in Wien auf. Er nahm als Offizier am Ersten Weltkrieg teil, geriet in russische Gefangenschaft und begann zu schreiben. 1929 verfolgte er ein Romanprojekt, "Dicke Damen", das später in die "Dämonen" überging. 1933 trat er in die österreichische NSDAP ein, von der er sich ab 1936 wieder distanzierte. Auch im Zweiten Weltkrieg wurde er noch einmal eingezogen.
Mit 55 machte ihn sein Roman "Die Strudlhofstiege" weltbekannt. 1957 erhielt der Schriftsteller Heimito von Doderer den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur, andere Auszeichnungen folgten.