Herkunftsstaaten - nichts ist sicher
16. Juni 2016Wenn man sich anschaut, wie viele Flüchtlinge im Mai nach Deutschland gekommen sind, dann macht die Bundesregierung gerade ein Gesetz für 374 Menschen. So viele Asylbewerber erreichten uns im vergangenen Monat aus dem Maghreb: 185 aus Marokko, 134 aus Algerien, 55 aus Tunesien. Keine nennenswerten Zahlen. Dass diese drei Länder jetzt als "sichere Herkunftsstaaten" eingestuft werden sollen, hat jedoch eine Vorgeschichte.
Als in der Silvesternacht vor dem Kölner Dom hunderte Frauen belästigt und beraubt wurden, waren unter den Tätern viele nordafrikanische Männer. Da auch Flüchtlingspapiere bei Verdächtigen gefunden wurden, zogen viele Politiker den Schluss: Menschen aus dem Maghreb haben ihren Asylbewerber-Status missbraucht und Straftaten begangen.
Tatsächlich kamen im Jahr 2015 etwa 25.000 Menschen aus Marokko, Algerien und Tunesien nach Deutschland. Asyl bekamen von ihnen aber nur rund 600. Die sogenannte Schutzquote lag für Tunesien bei 0,2 Prozent, für Algerien bei 1,7 Prozent und für Marokko bei 3,7 Prozent. In der Kriminalitätsstatistik dagegen waren Zuwanderer aus den drei Maghreb-Staaten deutlich stärker vertreten.
Keine systematische Verfolgung
Für die Bundesregierung bestätigen die Zahlen den Eindruck, den etwa Bundesinnenminister Thomas de Maizière bei einer Reise Anfang März gewonnen hat und den auch die deutschen Botschafter bestätigen: Es gibt zwar gute Gründe, den Maghreb aus Perspektivlosigkeit zu verlassen. Eine systematische politische Verfolgung oder unmenschliche Behandlung herrscht dort aber nicht. Deshalb hat die Bundesregierung ein Gesetz auf den Weg gebracht, mit dem die drei nordafrikanischen Staaten als sogenannte sichere Herkunftsstaaten definiert werden sollen.
Asylanträge von Menschen aus solchen Ländern könnten dann im Schnellverfahren behandelt werden. Das hieße: Innerhalb einer Woche wird entschieden und der Antragsteller muss derweil in einer speziellen Einrichtung wohnen. Als die Westbalkan-Staaten seinerzeit zu sicheren Drittstaaten erklärt worden waren, kamen von dort deutlich weniger Zuwanderer nach Deutschland.
Bedenken bei Grünen und Menschenrechtsorganisationen
Als 2014 und 2015 über die Balkan-Staaten abgestimmt wurde, gab es in Deutschland noch eine politische Mehrheit für die Gesetzesänderung. Trotz Zähneknirschen waren schließlich auch die Grünen einverstanden. Diesmal sieht es anders aus. Die Grünen sagen: Der Maghreb ist nicht der Balkan. Sie orientieren sich an den Erkenntnissen von Menschrechtsorganisationen.
Amnesty International und Pro Asyl beispielsweise sagen, dass in allen drei Ländern gefoltert wird und Oppositionelle und Homosexuelle verfolgt werden. Innenminister de Maizière hält dagegen, dass auch weiterhin jeder Einzelfall geprüft werde - für ihn ist eine Ablehnung seines Vorhabens "sinnlose Ideologie". Aber die Grünen scheinen hart bleiben zu wollen. Für sie steht ihr Markenkern auf dem Spiel: der Einsatz für Menschrechte.
Komplizierte Gemengelage im Bundesrat
Die Bedenken der Grünen könnten der Bunderegierung aus CDU/CSU und SPD egal sein, müsste nicht der Bundesrat, also die Länderkammer, dem Gesetz zustimmen. Dort sind die Grünen mittlerweile in zehn von 16 Landesregierungen vertreten. In den Ländern, wo sie mitregieren, wollen sie eine Zustimmung zu dem Gesetz verhindern.
Nur Baden-Württemberg könnte ausscheren. Es gilt als unwahrscheinlich, dass der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann seinen konservativen Koalitionspartner so früh in der gemeinsamen Amtszeit brüskieren will. CDU-Innenminister Thomas Strobl geht denn auch von einer Zustimmung aus und spricht von "Verlässlichkeit". Für eine Mehrheit im Bundesrat würde ein baden-württembergisches "Ja" trotzdem nicht reichen.
Große Signalwirkung
Betrachtet man allein die Zahlen der einreisenden Flüchtlinge, könnte der Regierung der Ausgang dieses politischen Streits fast egal sein. Die Fälle der wenigen Zuwanderer aus Nordafrika lassen sich nach der bestehenden Gesetzeslage schnell bearbeiten. Viele Beobachter vermuten ohnehin, dass die Regierung nach den Vorfällen in Köln vor allem eines wollte: Handlungsfähigkeit demonstrieren.
Tatsächlich ist aber weder klar, ob die Zahlen so gering bleiben, noch welches Signal von einer Abstimmungsniederlage der Koalition ausginge. In Regierungskreisen kursieren Vermutungen wie: "Die AfD würde sagen, nicht einmal das bekommt die Regierung hin" und "Wenn wir demonstrieren, dass diese Staaten nicht sicher sind, machen sich erst recht wieder Menschen mit Hoffnungen auf den Weg nach Europa".
Es gibt noch einen anderen Grund, dessentwegen die Bundesregierung die Regelung unbedingt durchdrücken will: Berlin will erreichen, dass Marokko, Algerien und Tunesien alle abgeschobenen Flüchtlinge zurücknehmen. Das tun sie bisher oft nicht. Als Belohnung für diese Zusammenarbeit hatte Deutschland das Siegel "Sicheres Herkunftsland" versprochen. Die Maghreb-Staaten würden sich nur zu gerne auf diesem Umweg bestätigen lassen, dass sie die Menschenrechte nicht verletzten. Wenn diese Einstufung scheitert, könnten auch die Rücknahmeabkommen schwierig werden.
Kompromiss in Sicht
Darum haben die Regierungsparteien ein so großes Interesse daran, sich mit den Grünen zu einigen - entweder vor der Abstimmung im Bundesrat oder nach einem Scheitern im Vermittlungsausschuss. Dort würde dann ein Kompromiss gesucht werden. Eine Idee ist, besonders gefährdete "vulnerable Personen" wie Journalisten, Homosexuelle und Oppositionelle durch ein eigenes Verfahren besonders zu schützen. Ein Kompromiss könnte auch heißen: Das Etikett "sicher", an dem sich viele Oppositionspolitiker stören, wird vermieden. Stattdessen könnte im Gesetz definiert werden, dass für Asylbewerber aus Ländern, die eine sehr geringe Anerkennungsquote aufweisen (beispielsweise unter fünf Prozent), automatisch ein Schnellverfahren angesetzt wird.
Dann wäre ein wichtiges Ziel des Gesetzes erreicht, ohne dadurch Länder zu früh aus der Verantwortung zu entlassen, die die Menschenrechte nicht immer achten. Die Grünen könnten mit diesem Modell möglicherweise leben - immerhin kommt der Vorschlag von ihnen. Ob Konservative und Sozialdemokraten das reicht, wird sich im Bundesrat zeigen. Bis dahin gilt: Nichts ist sicher.