Wie Chinas Wachstum funktioniert
23. Februar 2018Bislang hörte man nur Positives aus der Stadt Dezhou. Sie gilt als "Chinas erste Solarstadt", als "Solar-Tal Chinas" und war Austragungsort des World Solar Energy Congress 2010. In der Fünf-Millionen-Metropole der ostchinesischen Provinz Shandong glänzen fast auf jedem Dach Solarpaneele. Es gibt ein Forschungslabor, ein Solar-Museum und etwa hundert Solarfirmen.
Nun jedoch überraschte Himin, die größte Solarfirma Dezhous, mit einem offenen Brief. Darin kritisierte Huang Ming, CEO von Himin, die Lokalregierung wegen Untätigkeit. Der Brief bringt Insider-Informationen ans Licht und ermöglicht zugleich einen Einblick ins chinesische Wachstumsmodell und das Verhältnis von Staat und Wirtschaft.
Regierung lenkt, Privatunternehmen zahlt
Die Geschichte beginnt vor dem Solarkongress von 2010. Nach Schilderungen von Huang habe sein Unternehmen den Zuschlag der Stadt Dezhou für den Bau einer Tagungsstätte samt Hotel und Büros auf einer Fläche von 20 Hektar erhalten - natürlich alles ausgestattet mit Solarpanelen. Das Problem sei gewesen, dass die Stadt das Immobilienprojekt nicht habe finanzieren können. Als Gegenleistung stellte die Stadt deswegen die Nutzungsrechte des gesamten Grundstücks in Aussicht.
Huang habe nach eigenen Angaben daraufhin eine Milliarde Yuan (ca. 142 Millionen Euro) Eigenkapital aufgewandt und sich zwei weitere Milliarden Yuan (ca. 284 Millionen Euro) geliehen, um das Immobilienprojekt fristgerecht fertigzustellen.
Allerdings stellte sich schon während der Bauphase heraus, dass nur knapp die Hälfte der 20 Hektar rechtswirksam auf Huangs Firma umgeschrieben wurde. Der Rest blieb im Besitz der Lokalregierung. "Es kann schon nichts schief gehen", dachte Huang und verließ sich gutgläubig auf die mündlichen Zusagen der Stadtoberen.
Solar-Krise
Dann kam die Krise. 2016 haben Pekings Wirtschaftsplaner die Förderung für die Solarpanelproduktion drastisch zurückgefahren. Die Vollbremsung hatte zur Folge, dass sich die Privatunternehmer nicht mehr mit Bankendarlehen finanzieren konnten. Zum chinesischen Konjunkturpaket für die Solarbranche gehörte nämlich unter anderem die Vergabe von Krediten durch die Staatsbanken.
Erschwerend kam hinzu, dass die EU und die USA Strafzölle gegen chinesische Solarmodule verhängt hatten. Diverse Studien hatten gezeigt, dass chinesische Module mit Staatsgeldern kräftig subventioniert und in Europa und Amerika unter ihrem Marktwert angeboten wurden. Derzeit werden sieben von zehn Solarpaneelen weltweit in China produziert.
Die veränderte Lage brachte Huangs Unternehmen in die Bredouille. Jahrelang hatte er es nicht nötig, sich wegen Sicherheiten für die Finanzierung seiner Firma den Kopf zu zerbrechen. Jetzt sucht er händeringend nach Vermögenswerten und erinnerte sich an das Versprechen der Stadt Dezhou.
Politische Kontinuität? Fehlanzeige
Huang ist ein weltoffener erfahrener Unternehmer. Er saß als Delegierter für zwei Legislaturperioden im Nationalen Volkskongress wirkte maßgeblich am chinesischen Erneuerbare-Energien-Gesetz mit. Er traf Bundeskanzlerin Angela Merkel, die schwedische Kronprinzessin Victoria und den US-amerikanischen Umweltpolitiker Arnold Schwarzenegger.
Dass sein Unternehmen vor großen Schwierigkeiten stand, erzählte er niemand, bis zum chinesischen Neujahrsfest Mitte Februar. "Warum riskiere ich jetzt diesen Brief? Ich werde 60 Jahre alt und habe es nicht nötig". Sein Unternehmen hat ihn reich gemacht. "Aber ich muss für tausende Mitarbeiter, abertausende Vertragshändler und deren Familien sorgen", schrieb Huang im offenen Brief.
Er gestand ein, dass er schon seit vier Monaten seinen 3000 Mitarbeitern keine Gehälter und Sozialleistungen zahlen konnte. Er hofft nun, dass ihm die versprochenen restlichen Grundstücke rechtswirksam übertragen werden, damit er diese bei den Banken als Sicherheit für Darlehen nutzen kann.
Doch die Stadt macht nicht mit. Denn sie ist wie Chinas Kommunen insgesamt hoch verschuldet. Im November 2017 warnte Chinas Notenbankchef Zhou Xiaochuan vor "versteckten, komplexen, plötzlich auftretenden und ansteckenden" Risiken in den kommunalen Haushalten. Nach Angaben des Finanzministeriums beliefen sich 2017 die kommunalen Schulden auf umgerechnet 250 Milliarden Euro. Das entspricht etwa drei Viertel des gesamten deutschen Bundeshaushalts 2017.
Verkauf von Grundstück
Bisher galt die Veräußerung von Grundstücken immer als Geheimwaffe der Städte und Gemeinden in China. Und das Geschäftsmodell boomt landesweit nach wie vor. In China gehören Grundstücke dem Staat. Privatpersonen und -unternehmen dürfen die Nutzungsrechte für 50 oder 70 Jahre erwerben. Die Veräußerung der Nutzungsrechte spült vielerorts Milliarden in die leeren kommunalen Kassen.
So auch in der Solarstadt Dezhou. Im September 2017 wurden Teile der Grundstücke, die Himin versprochen und von Huangs Unternehmen erschlossen wurden, für umgerechnet 1100 Euro pro Quadratmeter veräußert. Das Preisniveau ist vergleichbar mit jeder deutschen Großstadt. Die Einnahmen hätte Huangs Unternehmen gut gebrauchen können. Die Stadt aber auch.
Klageschrift
Huang sah sich daraufhin gezwungen, sich öffentlich über die Lokalregierung zu beschweren. In dem Brief fährt er schwere Geschütze auf: gebrochene Versprechen, Heuchelei, Untätigkeit. Er habe mehrfach um Gespräche mit der Stadt gebeten und nur Antworten erhalten wie "vergangen ist vergangen" oder "Suche die Lösung auf dem Markt und nicht im Rathaus". Vom Auftrag der Stadt an Himin will der neue Herr im Rathaus angeblich nichts mehr wissen.
Huangs Brief löste zumindest eine Reaktion aus. Der Parteisekretär und der Bürgermeister hätten sich mit ihm getroffen, nachdem sie in den sozialen Medien den offenen Brief gelesen hatten. In einer Erklärung der Stadt Dezhou hieß es: "Die Stadt wird über die aus der Vergangenheit stammende Angelegenheit nach dem Prinzip 'Die Wahrheit in den Tatsachen suchen' und auf der Grundlage geltender Gesetze mit CEO Huang diskutieren, um eine Lösung herbeizuführen." Wille zur Kooperation klingt anders.
Beobachter spekulieren, dass die Stadt das erfolgreiche Familiennehmen verstaatlichen will. Sie könnten Huang in die Insolvenz drängen, indem sie dem Unternehmen die versprochenen Grundstücke weiter vorenthält, um es dann schließlich mit dem Erlös aus dem Verkauf derselben Grundstücke aufzukaufen.