Interview Herta Müller
5. März 2015Als oppositionelle Schriftstellerin hat Herta Müller selbst in einem diktatorischen Regime gelebt, war lange im Visier des rumänischen Geheimdienstes, der sie Tag und Nacht überwacht und verfolgt hat. 1987 konnte sie, nach jahrelangem Publikationsverbot, in den Westen ausreisen. Aktuell meldet sie Herta Müller als kritische Beobachterin in einem Interview mit der Tageszeitung "Die Welt" (05.03.2015) zu Wort.
In Rumänien hat die Literatur-Nobelpreisträgerin erlebt, was der Zusammenbruch einer Diktatur nach sich ziehen kann. Und wie der Westen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 auf eine Verbesserung der politischen Kultur setzte. "Wenn eine Diktatur zusammenbricht, dann entsteht nicht qua Naturgesetz eine Demokratie, sondern zuerst ein Zwischenstadium, aus dem wieder eine Diktatur oder eine Demokratie entstehen kann. Diktaturen haben die Substanz der Bevölkerung geplündert, sie haben den Leuten das Leben gestohlen." Für sie ist der Mord an dem russischen Regimekritiker Boris Nemzow das Resultat einer "irrwitzigen nationalistischen Propaganda, die immer hemmungsloser wird", je länger der russische Präsident Putin Krieg in der Ukraine führt.
"Angst verwüstet den Menschen innerlich"
In ihrem aktuellen Interview mit der Zeitung "Die Welt" beklagt die politisch engagierte Schriftstellerin, dass der Westen seine außenpolitische Strategie auf falschen Grundvorrausetzungen aufbaue. "Die Menschen in Osteuropa, die jahrzehntelang die sowjetische Besatzung erlebt haben, wissen, dass Diktatoren vom Schlage Putins nur auf Stärke reagieren. Vernunft und Dialog werden als Schwäche ausgelegt", sagt die Schriftstellerin, die seit Jahren oppositionelle Regimekritiker unter den Kulturschaffenden, wie zum Beispiel den chinesischen Schriftsteller Liao Yiwu, unterstützt.
In Osteuropa und in Russland haben für diese Grundwerte ihrer Meinung nach einen anderen Zusammenhang, als zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland, in der sie seit 1987 lebt und arbeitet. "Als ich nach Deutschland kam, hörte ich hier immer wieder die gut gemeinte Überzeugung, man müsse nur lange genug miteinander reden und sich immer wieder zusammensetzen, und dann werde alles gut. Und es gibt hierzulande auch noch die Auffassung: 'Solange gesprochen wird, wird nicht geschossen.' Als würde das eine das andere ausschließen."
Ihrer Einschätzung nach sei Wladimir Putin mit Dialogangeboten und außenpolitischen Abkommen nicht zu stoppen, was die Ukraine anbetrifft. "Die langsame fortwährende Zerrüttung ist eine beschlossene Sache, ein fertiger Plan in seiner Schublade. Daran wird kein Friedensabkommen und kein diplomatischer Dialog etwas ändern." Sein "Personenkult", ergänzt sie in dem Zeitungsinterview, beinhalte Schwäche und Stärke zugleich."Es ist diese Mischung aus grenzenlosem Misstrauen und grenzenloser Macht. Aus ihr entsteht die schreckliche Alleinherrschaft, die vermeintliche Allmacht. Ich kenne das aus Ceaușescus Rumänien. Niemand mehr widerspricht in seinem Umfeld. Alle Entscheidungen werden von Putin getroffen."
Keine lupenreine Demokratie
Ein so in sich geschlossenes politisches System lasse keine demokratischen Medien, keine wirkliche Opposition zu, erklärt Herta Müller. In Putins Machtbereich gebe es für eine liberale Gesellschaft nach westlichem Muster keinen Platz, trotz internationaler Offenheit über die Sozialen Medien. "Das wichtigste meinungsbildende Medium ist immer noch das staatliche Fernsehen. Und seine Aufgabe ist die totale Entmündigung durch Verzerrung der Wirklichkeit. Worum es auch geht, es wird alles entstellt. Seit dem Krieg in der Ukraine ist da ein Prozess im Gange, der immer gröbere Maschen verlangt."
Sorge machen der Schriftstellerin, die 2009 den Nobelpreis für Literatur für ihr schriftstellerisches und lyrisches Werk (darunter "Atemschaukel", "Herztier" oder "Der Fuchs war schon damals der Jäger") erhielt, vor allem die neuen rechtsgerichteten Bündnispartner Putins: vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Urban bis zum populistischen Politiker Le Pen in Frankreich. "Putin ist attraktiv für alle, die Angst haben vor einer offenen Gesellschaft, in der es die Gewaltenteilung der modernen Demokratie gibt, Menschenrechte und Meinungsfreiheit. Und er zieht alle altbackenen Nationalisten an, begibt sich im Weihrauch der orthodoxen Kirche in eine panslawische Bigotterie. Heutzutage werden in Russland Museen für moderne Kunst geschlossen und durch klerikale Zentren ersetzt. Die Fantasie der Kunst hat bisher noch jeden Diktator gestört."
hm/ld (welt.de/dw)