1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Hier gibt es keine Zukunft"

Daphne Grathwohl2. Januar 2013

Reihenweise schließen die Geschäfte in Griechenland, viele Menschen sind arbeitslos oder arbeiten für halben Lohn. Wer kann, wandert aus. Durch die Wirtschaftskrise blutet Griechenlands Mittelschicht aus.

https://p.dw.com/p/16wiY
Mann wühlt im Abfallcontainer in Athen (Foto: DW/D.Grathwohl)
Bild: DW/D.Grathwohl

Viel Zeit hat Theodoros Marinidis nicht. Er plant die Zukunft seiner Tochter und hat deshalb einen Termin im Goethe-Institut Athen. Sie soll nach der Schule nach Deutschland gehen - zum Studium. Sie spricht zwar schon Deutsch, aber ein zusätzlicher Kurs kann nicht schaden, glaubt der besorgte Vater. Im Ausland liege die Zukunft, so Marinidis. In Griechenland könne man nichts mehr voraussehen. "Wir haben ja auch unsere Pläne gemacht bis zu einem gewissen Grad, vielleicht nicht so wie die Deutschen, aber jetzt ist alles unwägbar geworden." Niemand wisse, ob Griechenland in der Euro-Zone bleibt und welche politische Zukunft das Land hat, gibt der 56-Jährige zu bedenken.

Ein Drittel weniger LohnMarinidis kennt Deutschland: Der Augenarzt hat einen Teil seiner Facharztausbildung in Regensburg gemacht. Jetzt arbeitet er im öffentlichen Dienst. In diesem Sektor wird gerade besonders heftig der Rotstift angesetzt. Denn im Zuge der notorischen griechischen Günstlingswirtschaft wurde er über die Jahrzehnte massiv aufgebläht. Politiker vergaben hier viele Pöstchen an ihre "Freunde" - und bekamen dafür im Gegenzug ihre Wählerstimme. Die überflüssigen Posten sollen ebenso abgebaut werden wie überhöhte Gehälter.

Theodoros Marinidis, Augenarzt, Goethe-Institut Athen (Foto: Daphne Grathwohl/DW) Wann wurde das Bild gemacht: 19.11.2012 Wo wurde das Bild gemacht: Goethe-Institut Athen Bei welcher Gelegenheit wurde das Bild gemacht: Reportage über Weihnachten in der Krise Wer hat das Bild gemacht: Daphne Grathwohl
Sorgt sich um die Zukunft - Augenarzt MarinidisBild: DW/D. Grathwohl

Doch die Kürzungen treffen nicht nur die Günstlinge, sondern alle - und zwar hart, sagt Marinidis: "Die Löhne im öffentlichen Dienst, in dem meine Frau und ich arbeiten, sind um gut ein Drittel gekürzt worden. Das ist viel, vor allem, wenn die Lebenshaltungskosten im Gegenzug nicht sinken."

Jeder vierte ohne ArbeitZurzeit ist nach Angaben der griechischen Statistikbehörde ELSTAT jeder vierte Grieche arbeitslos, bei den Jugendlichen ist es jeder zweite. Diesem Schicksal will der junge Christos entgehen. Er ist studierter Bauingenieur und plant, in Deutschland seine Doktorarbeit zu schreiben. Seine Familie wird er notgedrungen zurücklassen. Und das, obwohl sein Vater gerade an Krebs erkrankt ist.

Räumungsverkauf im Herrengeschäft (Foto: Daphne Grathwohl /DW)
"Wir schließen" - Alltag in AthenBild: DW/D. Grathwohl

Doch für die Behandlung des Vaters ist gesorgt, sagt er: "Hätten wir als Familie unsere Finanzen nicht in Ordnung gehalten, wäre die Behandlung meines Vaters keine Selbstverständlichkeit", sagt Christos. Medikamente gibt es in Griechenland derzeit oft nur gegen Bargeld, weil die Krankenkassen nicht zahlen können. Und der Geldumschlag an den behandelnden Arzt im Krankenhaus ist noch lange nicht abgeschafft und durch adäquate Versicherungsleistungen ersetzt.

"Wände kann man nicht essen"Durch die Arbeitslosigkeit und die Lohnkürzungen bricht auch das zweite finanzielle Standbein vieler Griechen zusammen - die Mieteinnahmen. Wie in vielen südeuropäischen Ländern ist die Eigentumsquote hoch: 80 Prozent der Griechen besitzen Eigentum, Wohnungen und Geschäftsräume. Doch viele Mieter werden arbeitslos und zahlen keine Miete mehr, viele Geschäfte stehen leer, weil die Kunden wegbleiben. "Wände kann man aber nicht essen", klagen die Eigentümer. Sie müssen von den geschrumpften Einnahmen nun auch noch die neuen Eigentumssteuern bezahlen. In anderen europäischen Staaten eine gewohnte Steuer, in Griechenland aber Neuland - und ein Zusatzposten im laufenden Jahr.

Vorrat am Milch und Windeln, Soziale Praxis Ellinikon, Athen (MKI) (Foto: Daphne Grathwohl/DW) Titel: Vorrat am Milch und Windeln, Soziale Praxis Ellinikon, Athen (MKI) Schlagworte: Georgios Vichas, Gesundheitssystem, Griechenland, Krise, MKI, Soziale Praxis Ellinikon, Krebspatienten, Elena Bazakopoulou, Wer hat das Bild gemacht: Daphne Grathwohl Wann wurde das Bild gemacht: 23.11.2012 Wo wurde das Bild gemacht: Soziale Praxis Ellinikon, Athen (MKI) Bei welcher Gelegenheit wurde das Bild gemacht: Reportage über Krise im Gesundheitswesen in Griechenland Wer oder was ist auf dem Bild zu sehen: Vorrat am Milch und Windeln, Soziale Praxis Ellinikon, Athen (MKI)
Milch und Windeln für BedürftigeBild: DW/D. Grathwohl

Steigende Steuern bei sinkenden Einnahmen machen vielen Griechen derzeit zu schaffen, beobachtet Ulrike Drißner, die stellvertretende Leiterin des Goethe-Instituts Athen. Sie kennt Griechenland seit den 1970er Jahren. Jetzt erlebe sie jeden Tag deprimierende Situationen: "Ein Gärtner erzählt mir, dass er nicht wisse, wie es weitergehen soll, er habe zwei studierende Kinder, die er unterstützen müsse." Jeden Tag sehe sie Geschäfte pleitegehen. Und im Supermarkt gingen die Preise nicht runter, sondern stiegen eher noch, beobachtet Ulrike Drißner: "Dann fragt man sich, wie können die Leute sich überhaupt noch etwas zu essen leisten?"

Alpenmilch billiger als griechische MilchTatsächlich sind Lebensmittel oft teurer als in Deutschland. Hinzu kommt, dass sogar viele griechische Produkte mehr kosten als die importierten. Alpenmilch kostet zum Beispiel um ein Drittel weniger als griechische Milch, denn die großen einheimischen Milchproduzenten bilden Kartelle und treiben die Preise hoch. Einerseits ächzen die Menschen also unter den Sparmaßnahmen, andererseits sind die Verkrustungen aus Korruption und Vetternwirtschaft noch immer sehr stabil.

Ulrike Drißner, stellvertretende Leiterin des Goethe-Instituts Athen (Foto: Daphne Grathwohl/DW)
Leidet mit Freunden und Bekannten - Ulrike Drißner vom Goethe-InstitutBild: DW/D. Grathwohl

Also suchen die Menschen überall Wege, um Geld zu sparen: In städtischen Gemüsegärten mitten in der Stadt bekommen Bedürftige eine Parzelle zugeteilt, um ihr Gemüse selbst anzubauen. Anleitungen zum "Do-it-yourself" findet man in allen Zeitungen - ob es ums Obsteinwecken geht oder um die Instandsetzung der alten Küche. Soziale Praxen kümmern sich um die Kranken und sammeln Babynahrung für die Armen.

Holzfeuer in Athen

Und an den Ausfallstraßen wird Brennholz angeboten: "Als im letzten Winter der Heizölpreis sprunghaft um 40 Prozent gestiegen ist, hat zum ersten Mal die Luft in Athen wieder nach Holzfeuer gerochen", beschreibt Ulrike Drißner die Lage. Wer einen Kamin hatte, feuert ihn an. Und wer nicht, kauft einen Metallofen, eine "Soba", stellt ihn in einen Raum, bohrt ein Loch in die Wand für das Kaminrohr und heizt wenigstens einen Raum. Selbst in ihrem - eher gehobenen - Wohnviertel haben nur wenige die Heizung aufgedreht, sagt Ulrike Drißner. Sie selbst übrigens auch nicht.

Im Foyer des Goethe-Instituts wartet der Augenarzt Theodoros Marinidis auf den Termin, mit dem er die Zukunft seiner Tochter vorbereiten will. "Wäre ich fünf Jahre jünger, würde ich - ehrlich gesagt - auch nach Deutschland gehen," sagt der 56-Jährige.