"Leerstelle in der Topografie der Gedenkorte"
30. August 2018In Berlin gibt es seit 2005 das Denkmal für die vom nationalsozialistischen Deutschland ermordeten Juden Europas. Seitdem sind weitere Denkmäler zum Gedenken an die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung entstanden: das Denkmal für die verfolgten Homosexuellen, das Denkmal für die getöteten Sinti und Roma sowie ein Gedenkort für die Opfer der "Euthanasie-Morde". Es fehlt aber in Deutschland ein Denkmal für die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten Europas während des Zweiten Weltkrieges. Diese Leerstelle soll nach dem Koalitionsvertrag der regierenden Parteien CDU/CSU und SPD geschlossen werden. Doch nun wird in Deutschland über die mögliche Umsetzung debattiert. In einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat sich der Bonner Historiker Martin Aust zu Wort gemeldet.
DW: Herr Aust, 2017 haben Sie noch einen Aufruf unterschrieben, der in Berlin ein eigenes Denkmal für die ermordeten Polen gefordert hat. Nun sprechen Sie sich aber für ein gemeinsames Mahnmal für alle Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten Europas aus. Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?
Martin Aust: Ich bin unverändert der Meinung, dass das Wissen um den Auftakt des deutschen Vernichtungskriegs in Polen in der deutschen Öffentlichkeit nicht ausreichend bekannt ist. Deswegen setze ich mich auch nach wie vor für ein sichtbares Zeichen der Erinnerung an die polnischen Opfer in Deutschland ein. Ich bin jedoch der Auffassung, dass es nicht ausreicht, allein die Leerstelle der Erinnerung an die polnischen Opfer des Vernichtungskriegs zu füllen. Auch die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs in der Sowjetunion sind eine Leerstelle in der Topografie der deutschen Gedenkorte. Wir sollten den gesamten Ereigniszusammenhang von Krieg und Vernichtungskrieg Deutschlands im östlichen Europa von 1939 bis 1945 in unserer Suche nach einer geeigneten Form des Gedenkens berücksichtigen.
Im Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung wird das Bestreben geäußert, an alle "Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten im Dialog mit den osteuropäischen Nachbarn" zu erinnern. Warum erzeugt diese deutsche Sicht - also die Sicht der Nachfahren der Täter - einen Konflikt mit den Erinnerungskulturen in Polen, der Ukraine und Russland?
Dies liegt daran, dass die Sprachen der Selbst- und Fremdbeschreibung von Tätern, Opfern und ihren Nachfahren sich unterscheiden. Die Nationalsozialisten bezeichneten die Menschen, die sie vernichteten, mit Begriffen, die sich von den Selbstbeschreibungen der Nachfahren der Opfer unterscheiden. Die Nationalsozialisten sprachen von Juden, sodann von Polen als Slawen und schließlich in erster Linie von Bolschewisten und Sowjets, lediglich manchmal von Russen und Ukrainern als Slawen. Die Nachfahren der Opfer des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion sprechen heute von sich in nationalen Kategorien als Russen, Belarussen und Ukrainer.
Und darum stößt gegenwärtig der Wunsch, mit allen Osteuropäern gemeinsam zu erinnern, an Grenzen?
Dies liegt vor allem an zahlreichen Erinnerungskonflikten innerhalb und zwischen den Staaten und Gesellschaften im östlichen Europa. In den Gesellschaften Polens, der Ukraine und Russlands lassen sich aktuell Auseinandersetzungen über die angemessene Form und die zentralen Inhalte der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg beobachten. In der polnischen Gesellschaft stehen sich exklusiv nationale Positionen und europäisch kontextualisierte Erinnerungen gegenüber. Im Warschauer Museum, das an den Aufstand von 1944 erinnert, wie auch im Film "Miasto 44" begegnet uns ein polnischer Patriotismus, der hinter dem Kampf für die Nation ein Ausrufezeichen setzt, das den Blick auf Kontexte entweder reduziert oder ausblendet. Pawel Machcewiczs ursprüngliche Konzeption des Weltkriegsmuseums in Gdańsk, das die Warschauer Regierung momentan revidiert, wie auch der Film "Róża", der von den Masuren 1945 erzählt, erhellen eine polnische Weltkriegserinnerung, die in europäischen Zusammenhängen steht und die Problematiken von Krieg und Nationsbildung in ihre Erzählung integriert.
In der Ukraine stellt sich die Frage, ob es rechten nationalen Kräften gelingen wird, der Erinnerungskultur ihren Stempel aufzudrücken oder ob sich eine Erinnerungskultur etablieren kann, die ukrainische, sowjetische und europäische Bezüge aufgreift. Die Geschichtsgesetze in der Ukraine kriminalisieren die sowjetischen Bezüge ukrainischer Vergangenheit. Sie verschweigen die Kollaboration im Holocaust und die ukrainischen Massaker an Polen 1943/44 und möchten die Ukrainer exklusiv entweder als Opfer oder Helden erinnert wissen.
In Russland laviert Präsident Wladimir Putin zwischen der Pflege sowjetischer Größe, russischem Patriotismus und der Anknüpfung an gesellschaftliche Erinnerungsinitiativen, die auf das Gedenken der Opfer des Stalinismus und des Weltkriegs zielen.
Zugleich bestehen ungelöste Erinnerungskonflikte zwischen diesen Staaten. Diametral entgegengesetzt sind geschichtspolitische Äußerungen von Regierungsvertretern in Russland und der Ukraine. Während die offizielle russische Darstellung 2014 die Annexion der Krim mit einem Rückblick auf die Befreiung der Krim 1944 grell als abermalige Verteidigung der Halbinsel vor dem Faschismus darstellte, führte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am Unabhängigkeitstag der Ukraine, dem 24. August 2017, aus, die russische Aggression im Donbass 2014 habe die Ukraine ebenso überraschend getroffen wie der deutsche Angriff 1941.
Dies alles führt dazu, dass jegliche deutsche Initiative einer bilateralen Erinnerung für Verstimmung bei Dritten sorgen wird.
Sie warnen daher vor einer "Nationalisierung von Erinnerung"?
Die Errichtung eines Denkmals allein für die polnischen Opfer wird die nachvollziehbaren Wünsche nach einem Denkmal für die Opfer der Russen, Belarussen und Ukrainer nach sich ziehen. Der gut begründete Imperativ, unserer Erinnerungsverantwortung für die Taten unserer Großväter-Generation nachzukommen, würde nicht zu einer einvernehmlichen Erinnerungskultur führen, sondern neue Erinnerungskonflikte schaffen. Wir würden einen Beitrag zu einer Konkurrenz von Nationen und ihren Erinnerungsansprüchen leisten und in ohnehin schwierigen politischen Zeiten konfliktverschärfend agieren. Deutschlands Verbindungen zu mehreren Staaten und Gesellschaften im östlichen Europa bemessen sich nach Jahrhunderten und sind eng miteinander verwoben. Gefragt ist mithin eine Form des Gedenkens, die unserer Erinnerungsverantwortung als Nachfahren der Täter gerecht wird und sich multilateral begründen und durchhalten lässt.
Martin Aust ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn.
Das Interview führte Ingo Mannteufel.