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Das historische Filmprojekt

Arne Lichtenberg20. Februar 2013

1986 entschieden sich zwei Dokumentarfilmer, die Nachbarn ihres Stadtviertels zu beobachten. Das Projekt dauerte 26 Jahre. Erst jetzt ist Schluss. Die beiden Filmemacher haben damit ein Stück Zeitgeschichte eingefangen.

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Das Team hinter dem Projekt und die beiden Dokumentarfilmer Hans-Georg Ulrich (3.v.l.) und Detlef Gumm (2.v.r.) (Foto: Ingeborg Ullrich)
Bild: Ingeborg Ullrich

Wilmersdorf sehen heißt, die Welt zu verstehen. Der Berliner Stadtteil Wilmersdorf ist nicht spektakulär, ist nicht besonders arm, nicht besonders reich, nicht besonders schön und nicht besonders hässlich, ein ganz normales Stück Bundesrepublik eben. In den schickeren Wohnungen leben Ärzte und Rechtsanwälte, in den anderen der Taxifahrer oder der Handwerker. Wohnen kann man hier noch zu einem angemessenen Preis. Ein Stück Kleinbürgertum mitten in der Hauptstadt. Passend, dass die beiden Dokumentarfilmer Hans-Georg Ullrich und Detlef Gumm genau hier in der Nähe des Bundesplatzes ihr Büro haben. So wurde ihr Stadtviertel zum Setting für die wohl ungewöhnlichste Langzeitdokumentation, die es je im deutschen Fernsehen gegeben hat.

Filmplakat zur Langzeitdokumentation "Berlin - Ecke Bundesplatz"
Das Filmplakat zur Langzeitdokumentation

1986 hatten die beiden Dokumentarfilmer gerade den Grimme-Preis gewonnen, die wohl renommierteste Auszeichnung für Fernsehsendungen in Deutschland, da bekommen sie ein Angebot, das sie nicht ausschlagen konnten. Der Westdeutsche Rundfunk trat an die beiden Berliner mit der Offerte heran: "Dreht, was euch interessiert. Wir senden es." Das ließen sich Gumm und Ullrich nicht zweimal sagen und sprachen mehrere Personen in der Nachbarschaft an, am Ende blieben 30 Menschen übrig, die zu den Protagonisten ihres Langzeitfilmprojekts wurden.

Nichts ist spannender als das normale Leben

Ülo Salm, Rechtsanwalt und Protagonist in dem Film mit seinen zwei Hunden (Archivfoto: Ingeborg Ullrich)
Ülo Salm, Berliner Rechtsanwalt mit extravagantem LebensstilBild: Ingeborg Ullrich

Dabei ist ein Rechtsanwalt, der einst prominente Mandanten vertrat und mit seinem Rolls-Royce gerne die parkenden Autos der Nachbarn blockierte und sie somit verärgerte. Im Jahr 2002 wurde er aber wegen Betrugs und Urkundenfälschung zu mehr als fünf Jahren Gefängnis verurteilt. In Haft dachte er über seine Vergangenheit nach, besuchte sogar den Gefängnisseelsorger und brachte sein Leben wieder in Ordnung. Oder der Schornsteinfeger, der immer von einer Rolle in einem Hollywood-Film träumte, aber am Ende in einem kalifornischen Burgerladen landete. Heute ist er verheiratet, hat zwei Kinder und ständig Angst, dass das Geld nicht reicht.Mit von der Partie ist auch die Bäckerfamilie Dahms, die jahrelang schuftete und das Viertel mit Backwaren und Brötchen versorgte. Irgendwann konnten sie sich die Miete für den Laden nicht mehr leisten. Der Mann ließ sich von den neuen Besitzern anstellen, bis bei ihm Kehlkopfkrebs diagnostiziert wurde. 2010 starb er. Seine Witwe muss heute von gerade einmal 340 Euro Witwenrente leben, hat ihren Humor und Optimismus aber nicht verloren. "Das finde ich ungerecht", sagt Gumm erzürnt. "Die Frau hat ein redliches Handwerk gelernt, Tag und Nacht gearbeitet und muss heute von so wenig Rente leben." Das Schicksal der Bäckerswitwe führt Gumm beispielhaft dafür an, dass es nach seinen Erkenntnissen in der Bundesrepublik nicht gerecht zu geht. Die Mittelschicht breche langsam weg, es gäbe ein immer stärkeres soziales Gefälle zwischen sehr reich und sehr arm. Dennoch schränkt Gumm ein, "geht es uns hier in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern noch sehr gut, das haben uns einige auch immer wieder bestätigt."

Michael Creutz, Bezirksschornsteinfegermeister und Protagonist in dem Film (Foto: Ingeborg Ullrich)
Schornsteinfegermeister Michael Creutz wollte einmal in einem Holleywoodstreifen mitwirkenBild: Ingeborg Ullrich
Die Bäckersfamilie Dahms vor ihrer Bäckerei (Archivfoto: Ingeborg Ullrich)
Bäckersfamilie Dahms: Ein Leben voll ArbeitBild: Ingeborg Ullrich

Ein paar Tage drehen, dann wieder Pause

Regelmäßig kamen die Protagonisten zu den beiden Dokumentarfilmern ins Büro und haben erzählt, welche Reise, welche Prüfung oder welches Ereignis in der nächsten Zeit ansteht. Im Anschluss wurde dann ein paar Tage intensiv gedreht, dann war wieder zwei Monate Funkstille. Insgesamt arbeiteten Gumm und Ullrich pro Jahr sechs Monate an "Berlin - Ecke Bundesplatz".

Angst, dass sie hier einmal die Rolle des distanzierten Beobachters mit dem vertrauten Bekannten verwechselten, haben sie dabei jedoch nie gehabt. "Wir hatten die Kontrollinstanz mit dem Schneideraum, da haben wir dann unser Drehmaterial gesichtet und ausgiebig überlegt, 'kann man das machen oder kann man das nicht machen'", erklärt Detlef Gumm, wie den beiden der Spagat gelang. "Wenn wir den Verdacht hatten, dass unsere Charaktere durch das Gezeigte beschädigt werden könnten, dann haben wir es unter den Tisch fallen lassen."

Filmisches Dokument für Soziologen und Historiker

Nach 26 Jahren werden nun die letzten Filme des Langzeitfilmprojekts gezeigt. Detlef Gumm ist mittlerweile 65 Jahre alt, sein Partner Hans-Georg Ullrich ist 70. Die meisten Geschichten sind auserzählt. Ihr halbes Leben haben sie mit "Berlin - Ecke Bundesplatz" verbracht, wohl wissend, dass so ein Projekt heute undenkbar und viel zu teuer wäre. Sie hatten 1986 einfach eine einmalige Chance.

Schon kommen die ersten Stimmen auf, dass man doch eine eigene Dokumentation über diese beiden ungewöhnlichen Filmemacher erstellen müsste, doch Gumm wiegelt ab. "So bedeutend sind wir nicht." Bedeutend ist aber ihre filmische Hinterlassenschaft. Ein sehr sorgfältiger Fingerabdruck einer bestimmten Epoche. Ein Sittenbild des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Soziologen und Historiker haben schon ihr Interesse angemeldet.