Hitlers Wehrmacht - unpolitisch, aber willig
25. Oktober 2012DW: Die Wehrmacht und der von Nationalsozialisten angestiftete und geführte Vernichtungskrieg - das ist ein Thema, von dem man 67 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eigentlich meinen sollte, es sei "ausgeforscht". Das aber ist offenkundig nicht der Fall. Sie haben in den USA Akten und Dokumente entdeckt und untersucht, von denen man hierzulande lange nichts wusste.
Felix Römer: Es handelt sich um einen großen Aktenbestand, den wir bisher noch nicht kannten, aus einem Verhörlager, das bei Washington lag, mit dem Namen 'Fort Hunt'. In diesem Lager haben die US-amerikanischen Militärnachrichtendienste zwischen 1942 und 1945 ungefähr 3000 Wehrmachtssoldaten interniert, sie vernommen und auch in ihren Zellen heimlich belauscht durch versteckte Mikrofone. Daraus ist ein gigantischer Aktenbestand von über 102.000 Seiten, aus Abhör- und Vernehmungsprotokollen entstanden. Das ist ein großer Gewinn für die Forschung zur Mentalitätsgeschichte der Wehrmacht, denn hier hört man ganz normale Wehrmachtssoldaten im Originalton sprechen – und zwar über alle denkbaren Themen.
Die Dokumente lagen - zugänglich, aber doch weitgehend unbeachtet - seit den 1970er Jahren in den US National Archives. Wie geht man denn da heute vor als Historiker: Wie haben Sie dieses umfangreiche Material erschlossen?
Das war zunächst einmal nur möglich wegen der großzügigen Förderung durch die Fritz-Thyssen-Stiftung und die Gerda-Henkel-Stiftung. Dies hat es uns ermöglicht, ein ganzes Forschungsteam aufzustellen, das die Sichtung und Erschließung der Akten vorgenommen hat. Diese 102.000 Seiten aus Fort Hunt – die meine Zuständigkeit waren – haben wir zunächst mit Datenbanken erschlossen, und dann bestand die Arbeit wirklich im gezielten Lesen und Auswerten dieser Quellen. Wofür wir ja auch mehrere Jahre gebraucht haben. Aber einen anderen Weg, als diese Dokumente zu lesen, gibt es eben nicht.
Was waren das für Soldaten, Truppenführer, Offiziere? Die sprichwörtlichen "ganz normalen Männer" oder fanatisierte, politisierte, brutale NS-Täter?
Eine schwierige Frage, auf die es keine eindeutige Antwort geben kann. Die Ideologisierung der Wehrmacht gehört zu den kontroversesten Themen der deutschen Geschichte. Wir können jetzt aber aufgrund der neuen Quellen zu realistischeren Bildern der Wehrmacht kommen, besonders im Hinblick auf die Ideologisierung der deutschen Truppen. In früheren Forschungen wurde dieser Aspekt häufig überschätzt. Jetzt aber können wir den Grad der weltanschaulichen Indoktrination noch wirklichkeitsnäher ermessen.
Wir sehen, dass viele Wehrmachtssoldaten nur ein oberflächliches politisches Bewusstsein hatten. Das heißt freilich nicht, dass sie von der NS-Ideologie nicht beeinflusst waren. Die Abhörprotokolle aus Fort Hunt zeigen, dass die Wehrmacht keine durch und durch politische Armee war – aber sie war eben auch keine Armee wie jede andere. Sie besaß einen politischen Hintergrund. Und sie war an vielen Stellen mit politischen Soldaten besetzt. Dazu gehörten auch viele Truppenführer und Unterführer, die auf allen Ebenen der Hierarchie der Wehrmacht ihren Stempel aufdrückten. Durch diesen harten Kern erhielt die Kriegsführung der Wehrmacht einen nationalsozialistischen Einschlag, ohne dass jeder einfache Landser unbedingt ein überzeugter Nationalsozialist sein musste.
Wenn Sie sagen, nicht jeder Wehrmachtssoldat war ein fanatischer Nationalsozialist, mindert das aber nicht die Schuld, die diese Leute auf sich geladen haben.
Es geht hier nicht um die Beurteilung der Schuld, sondern darum, das Handeln der Soldaten zu analysieren. Es geht darum, wie eine Militärmaschine funktioniert. Das wollen wir besser verstehen. Früher waren die Forschungs-Zugänge zum Teil zu einseitig, vor allem die Interpretation, dass jeder einzelne Soldat an den Verbrechen teilgenommen hat, weil er ein überzeugter Nationalsozialist war. Aber dabei hat man die sozialen Dynamiken vergessen, die in einer Armee eine überragende Rolle spielen. Wir sehen eben auch in den Abhörprotokollen häufig, dass die Soldaten Taten begehen, deren Sinn sie sich oft erst im Nachhinein konstruieren. In vielen Fällen haben sie einfach das getan, was die anderen gemacht haben.
Hat also eine bestimmte Situation, auch ein Gruppendruck die Soldaten dazu gebracht, schrecklichste Verbrechen zu begehen?
Ganz genau. Diese situativen und sozialen Zwänge werden in den Abhörprotokollen noch deutlicher erkennbar. Sie bilden den Rahmen für das Handeln im Krieg. Allerdings: Die Soldaten konnten sich innerhalb dieses Rahmens durchaus unterschiedlich verhalten. Hier kommt dann die individuelle Intention und auch die individuelle Verantwortung wieder ins Spiel.
Lange Zeit hat sich ja die Behauptung von der "sauberen Wehrmacht" gehalten. In Deutschland wurde mit diesem Mythos spätestens 1995 mit einer Ausstellung zu diesem Thema aufgeräumt. Sind Sie diesem Mythos auch noch einmal nachgegangen?
Die Abhörprotokolle von Fort Hunt bestätigen vieles, was wir aus der Wehrmachtsforschung schon wissen, im Hinblick auf die Verbrechen. Sie sind aber nicht geeignet, die Taten selbst oder das Ausmaß der Verbrechen zu quantifizieren. Sie bilden ja nur ab, wie die Soldaten darüber sprechen. Der Wert der Dokumente liegt vor allem darin, dass sie zeigen, wie die Soldaten die Kriegsverbrechen wahrgenommen, wie sie darüber gedacht haben. Da können wir der Forschung neue Facetten hinzufügen und zeigen, wie einfache Soldaten diese Gewalt erlebt und was sie darüber gedacht haben.
Ein besonders interessanter Aspekt dabei ist der Blick der Wehrmachtssoldaten auf den Holocaust. Da bestätigt sich, dass die meisten Soldaten sehr wohl davon wussten, gehört haben, Gerüchte erfahren haben – im Prinzip konnte jeder davon wissen, der es wissen wollte. Es zeigt sich aber auch, dass der Holocaust in der Armee nicht populär war. Die Kriegsverbrechen sind jedoch nicht das einzige Thema, über das wir in diesem Zusammenhang lesen konnen. Die Abhörprotokolle zeigen die ganze Bandbreite des Lebens in der Wehrmacht und ermöglichen so eine viel umfassendere Mentalitätsgeschichte dieser Armee.
Haben Sie eigentlich einen nennenswerten Anteil von Stimmen gefunden, die Widerwillen und Kritik ausgedrückt haben gegen das, woran die Soldaten selbst beteiligt waren?
Ja, solche Stimmen gibt es in beträchtlicher Zahl. In Bezug auf den Holocaust sind diese Äußerungen sogar sehr zahlreich. Viele Soldaten, die über den Völkermord an den Juden sprechen, äußern sich dazu sehr kritisch und ablehnend. Allerdings sind das häufig Soldaten, die nicht selbst an den Taten beteiligt waren, sondern die davon nur gehört haben. Diejenigen, die selbst daran mitgewirkt haben, zeigen in der Regel eine andere Reaktion. Bei ihnen gibt es eher das Bedürfnis, die Taten im Nachhinein zu rechtfertigen, auch um das eigene positive Selbstbild aufrecht zu erhalten. Diese Art der Reaktion gehört selbst zu den Automatismen der Gewalt.
Immer wieder haben sich nach dem Krieg Wehrmachtsangehörige auf den so genannten "Befehlsnotstand" berufen: Ist das ein Argument, das sie in den Protokollen auch wieder gefunden haben?
Nein, der Befehlsnotstand kommt sehr selten in unseren Quellen vor. Andere Dinge waren für die Soldaten viel wichtiger: Das soziale Umfeld, die Gruppe, die Kameraden, die Vorgesetzten. Vor denen wollte man bestehen, sich bewähren. Hinzu kommt das militärische Wertesystem, das kriegerische Ethos der Wehrmacht. Die Soldaten wollten gute Soldaten sein, ihre Arbeit gut machen, Orden gewinnen, ihre Pflicht erfüllen. Das sind Motive, die man sehr viel häufiger hört, die nichts mit bloßem Zwang zu tun haben, sondern mit dem Rollenverständnis der Wehrmachtssoldaten. Aber die Identifikation mit diesen militärischen Werten war sehr individuell, das gehört zu den zentralen Themen meiner Studie.
Dr. Felix Römer, 34, arbeitet zur Zeit als Historiker am German Historical Institute in London. Basierend auf seinen Forschungen zur deutschen Wehrmacht veröffentlichte er kürzlich das Buch "Kameraden - Die Wehrmacht von innen" (Piper-Verlag, 544 Seiten).