Hoffen auf den weichen Brexit
28. Juni 2016
Die deutsch-britische Industrie- und Handelskammer in London rief gleich am Tag Eins nach dem EU-Referendum ihre Mitgliedsunternehmen auf, "einen kühlen Kopf zu bewahren." Jetzt gelte es auf beiden Seiten des Ärmelkanals, "aufeinander zuzugehen, um die wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen auf das Vereinigte Königreich und die EU unter Kontrolle zu halten." Denn, mit oder ohne britische Mitgliedschaft in der EU säßen schließlich alle Europäer bei den allermeisten wirtschaftlichen und politischen Themen auch weiterhin im selben Boot. So weit die Theorie - denn niemand weiß, was tatsächlich geschehen wird.
Wie viele andere Wirtschaftsakteure setzt auch die Londoner AHK auf den Pragmatismus der Briten, unter dem Hinweis, dass selbst "große Teile der Führung der Brexit-Kampagne" das so sehen würden. Man setzt darauf, dass "mittelfristig eine praktikable Lösung gefunden werden kann, die das Vereinigte Königreich weiter wirtschaftlich und politisch eng an Europa bindet."
Optimales Szenario und Worst Case
Ulrich Hoppe, Chef der Londoner Außenhandelskammer, bringt seine Vorstellungen von einem solchen weichen Ausstieg im Gespräch mit der DW auf den Punkt: "Ein Traum wäre, dass man irgendeine Art Assoziierungsabkommen mit der EU aushandeln könnte und dass letztendlich der freie Warenverkehr, der freie Dienstleistungsverkehr und der freie Kapitalverkehr bestehen bleiben."
Doch auch der AHK-Chef weiß, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Reizthema für die Anhänger des EU-Austritts sind. "Da wird es sicher Einschränkungen geben. Aber wir hoffen, dass da eine Offenheit bleibt, denn das ist für global operierende Unternehmen sehr wichtig."
Für ihn wäre es am schlimmsten, wenn am Ende nur noch die Regeln der Welthandelsorganisation WTO gelten würden, wie das einige der Brexit-Befürworter gefordert haben. Das wäre für den Zusammenhalt in Europa und für die enge Verzahnung zwischen der deutschen und britischen Wirtschaft "sehr problematisch."
Hoppe unterstreicht aber, dass sich für Unternehmen, die nach Großbritannien exportieren, kurzfristig nichts an den Rahmenbedingungen ändern wird. Denn solange die Austrittsverhandlungen nicht abgeschlossen sind, bleibt das Inselreich weiter Teil der EU.
Auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag ruft zur Ruhe auf, weil durch mögliche Übergangsfristen "erst in frühestens zwei bis möglicherweise vier bis fünf Jahren Änderungen für die deutschen Unternehmen eintreten."
Warnungen aus Fernost
Auch andere Schwergewichte der Weltwirtschaft wie Japan würden Großbritannien am liebsten weiter in der EU sehen. "Ein Verlassen der EU würde Großbritannien weniger attraktiv als Ziel für japanische Investitionen machen", hatte Japans Premier Shinzo Abe noch vor wenigen Wochen bei seinem Besuch in London Anfang Mai gewarnt.
Nach Angaben des britischen Premierministers David Cameron betragen die japanischen Investitionen in Großbritannien rund 38 Milliarden Pfund, was nach dem aktuellen Kurs knapp 46 Milliarden Euro entspricht. Unter den größten Investoren sind die Autobauer Nissan und Honda. Mit Hitachi ist ein weiterer japanischer Großkonzern auf der Insel präsent.
Wie die Japaner sind auch die Deutschen in der britischen Automobilindustrie stark vertreten. Auf sie kommen "merkliche negative Auswirkungen" des Brexits zu, meint Stefan Bratzel von der Fachhochschule der Wirtschaft Bergisch Gladbach. Am stärksten treffe es Hersteller wie Nissan oder BMW, die auf der Insel Werke mit hohen Kapazitäten haben. Der Standort England werde im EU-Ausland weniger attraktiv. Autoexperte Bratzel erwartet somit "einen schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel".
BMW hat im vergangenen Jahr mehr als 200.000 Minis in England gebaut und die Hälfte davon in die EU exportiert. Nissan und die zum indischen Tata-Konzern gehörenden Hersteller Jaguar und Land Rover produzierten jeweils rund 500.000 Autos in Großbritannien, Toyota 190.000 und die GM-Tochter Opel-Vauxhall 140.000, rechnet Bratzel vor.
Schon jetzt überdenke jeder Hersteller oder Zulieferer anstehende Investitionen wegen der Unsicherheit und möglicher höherer Komplexitätskosten. "Mittel- und langfristig ist auch mit Standortverlagerungen von der Insel in die EU zu rechnen", sagt der Autoexperte. Bratzel rechnet damit, dass die Verhandlungen der EU mit den Briten lang und schwierig werden dürften, weil die EU Nachahmer abschrecken wolle.
Rückkehr der Bürokratie
Eins ist trotzdem schon jetzt sicher: Wenn die Briten den Brexit wirklich vollzogen haben, kehrt die Bürokratie bei allen grenzüberschreitenden Geschäften zurück. Und wenn sich die EU und die USA auf das transatlantische Freihandelsabkommen einigen, könnte es billiger und einfacher werden, ein US-Auto in die EU zu exportieren als einen Wagen 'Made in Britain'.
Der DIHK formuliert es so: "Selbst wenn im Rahmen eines etwaigen Handelsabkommens mit der EU auf Zölle verzichtet würde, käme auf die Unternehmen mehr Bürokratie zu. Denn innerhalb der EU abgeschaffte Zollvorschriften würden bei Im- und Exporten mit Großbritannien wieder greifen." Und dann müssen Unternehmen wieder für sämtliche grenzüberschreitenden Waren Zollanmeldungen und andere Papiere ausfüllen und bei der Ein- und Ausfuhr abgeben.