Hohe Energiepreise: Drohen soziale Unruhen?
9. August 2022Deutschlands Politiker auf Bundes- und Landesebene sind wegen der gedrosselten russischen Gaslieferungen alarmiert. Sie prüfen weitreichende Maßnahmenpakete, um Energie einzusparen: vom Ausschalten der Straßenbeleuchtung bis zur Senkung der Temperaturen in öffentlichen Gebäuden. Und sie appellieren immer dringlicher an die Bürgerinnen und Bürger, den privaten Energie-Verbrauch zu senken.
Bundeskanzler warnt vor "sozialem Sprengstoff"
Zugleich fürchtet die Bundesregierung, dass es im Winter auch zu heftigen Protesten kommen könnte. Möglicherweise angestachelt von extremistischen Gruppierungen, die die angespannte Lage für ihre Ziele ausnutzen wollen. Bundeskanzler Olaf Scholz thematisierte die Brisanz für seine Verhältnisse überraschend offen. In einem ARD-Interview sprach er von "sozialem Sprengstoff", wenn viele Menschen spätestens im Herbst Energierechnungen mit Steigerungen von mehreren hundert Euro bekämen. "Ich mache mir große Sorgen", betonte der SPD-Politiker.
Mit der ausdrücklichen Benennung des sozialen "Pulverfasses" sind der Kanzler und seine Regierung offenkundig bemüht, soziale Unruhen schon im Keim zu ersticken. "Mit der Verwendung des Narratives des sozialen Sprengstoffs, versucht der Kanzler Schüsselentscheidungen vorzubereiten", sagt Ricardo Kaufer, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Politische Soziologie an der Universität Greifswald, im Gespräch mit der DW. "Damit sollen alle Akteure, die potenziell Vetos gegen weitreichende sozialpolitische Maßnahmen einlegen könnten, zu Kompromissen bewegt werden."
Lehre aus der Corona-Pandemie
Mit anderen Worten: Scholz signalisiert seinen Regierungspartnern, der politischen Opposition, Wirtschaftsführern und der Zivilgesellschaft, dass sie mit der inneren Sicherheit des Landes spielen, wenn sie über politische Antworten auf die Energiekrise streiten. Dies sei eine "Lehre aus der Corona-Pandemie", sagt Kaufer. In der Pandemie habe der Gesetzgeber oft unvorbereitet gewirkt, trotz wissenschaftlicher Prognosen zur künftigen Aus- und Verbreitung des Virus. Die Kommunikation sei häufiger reaktiv als proaktiv gewesen.
In der aktuellen Krise verabschiedete der Bundestag bereits per Gesetz Maßnahmen, die die Belastungen durch die steigende Energiepreise abmildern sollen, insbesondere für die Schwächsten der Gesellschaft. Gleichzeitig dürfen deutsche Energieversorger einen Teil ihrer gestiegenen Kosten an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergeben.
Bei der Ausgestaltung der Maßnahmen bewegen sich die Beamten in den Ministerien auf einem schmalen Grat. Sie sollen zum einen gerade Geringverdiener vor finanziellen Notlagen schützen, dabei aber Anreize zum Energiesparen nicht untergraben. Weitere Erleichterungen könnten nach der Sommerpause folgen. Eine Einigung über die konkrete Ausgestaltung und Kosten dürfte jedoch einige Woche dauern.
Die kleinste Partei in der Regierungskoalition, die liberale Freie Demokratische Partei FDP, kontrolliert das Finanzministerium, was ihr erhebliche Macht über die Staatskasse verleiht. Finanzminister Christian Lindner machte deutlich, dass er beabsichtige, diese Macht einzusetzen, um Ausgaben zu begrenzen, da er für die Werte seiner Partei – niedrige Steuern, niedrige Ausgaben und geringe Regulierung – einstehe. Die größeren Partner der FDP, die Sozialdemokratische Partei von Scholz und die Grünen, drängen dagegen auf großzügigere Hilfen für Bürgerinnen und Bürger.
Es kommt auf die Kommunikation an
Selbst wenn es der Bundesregierung gelänge, sich auf weitere Maßnahmen zu einigen, könnte ihre Botschaft missverstanden werden und sich die öffentliche Stimmung nicht entspannen. Wie die Pandemie gezeigt hat, reichen Geld und Ressourcen alleine zur Krisenbewältigung nicht aus; klare und konsequente Kommunikation sind mindestens ebenso wichtig.
"Wahrnehmungen sind entscheidend", sagte Evelyn Bytzek, Professorin für Politische Kommunikation an der Universität Koblenz-Landau, der DW. "Letztlich handeln wir alle eher nach dem, was wir wahrnehmen, als nach dem, was real ist." Daher sei Symbolik ein mächtiges Werkzeug, um die öffentliche Unterstützung aufrechtzuerhalten, so Bytzek. Sie verweist auf Gerhard Schröders Besuch in den vom Hochwasser betroffenen Teilen Ostdeutschlands im Jahr 2002, der ihm in seinem Wahlkampf für seine erneute Kanzlerschaft Auftrieb gegeben habe. Ein paar Wochen später wurde Schröder wiedergewählt.
Olaf Scholz dagegen hat die letztjährige Wahl auch wegen seines Merkel-ähnlichen passiven Führungsstils gewonnen. Nun könnte das zu einer Belastung werden, wenn die Öffentlichkeit das Gefühl bekomme, das Regierungsschiff steuere ohne Kapitän am Ruder auf einen Eisberg zu. Noch bleibt Scholz aber Zeit, das Ruder herumzureißen und sich als politischer Gestalter zu präsentieren. "Wenn das Krisenmanagement gut bewertet wird, dann ist das Vertrauen hoch. Und deswegen ist eine Krise nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance, mehr Vertrauen zu schaffen", erklärte Bytzek.
Scholz' Stellvertreter Robert Habeck hat das offenbar verstanden. Als Wirtschafts- und Klimaminister hat der Grünen-Politiker eine Führungsrolle in der Energiepolitik und war gezwungen, harte Entscheidungen zu treffen, die seinem eigenen Umweltbewusstsein oft widersprachen. Umfragen zeigen, dass er bei den Bürgern an Zustimmung gewonnen hat, weil er die Gründe seiner Entscheidungen transparent und verständlich erklärt.
Einfluss von Populisten und Extremisten
Das Bundesinnenministerium erklärte auf Anfrage der DW, dass Proteste ähnlicher Größenordnung wie gegen die Corona-Schutzmaßnahmen erwartbar seien - je nachdem, wie sehr die Energiekosten und eine möglicherweise eingeschränkte Energieversorgung die Gesellschaft belastetet werden.
"Wir können davon ausgehen, dass Populisten und Extremisten wieder versuchen werden, die Proteste nach ihren Vorstellungen zu beeinflussen", sagte Britta Beylage-Haarmann, Sprecherin des Ministeriums, der DW. "Über extremistische Akteure und Gruppierungen in Deutschland kann ein konkretes Gefahrenpotential heranwachsen, wenn dementsprechende gesellschaftliche Krisenumstände dies begünstigen." Die Bundespolizei, die dem Innenministerium untersteht, erklärte auf DW-Nachfrage, das ihr "keine eigenen Erkenntnisse" über konkrete Bedrohungen vorlägen.
"Querdenker" und andere Gruppen, die während der Pandemie auf die Straße gegangen sind, um gegen die staatlich angordneten Maßnahmen zu demonstrieren, sind laut, repräsentieren allerdings nur eine kleine Minderheit der öffentlichen Meinung. Dennoch sind sie in der medialen und politischen Aufmerksamkeit sehr präsent.
Einige Soziologen wie Ricardo Kaufer von der Universität Greifswald sind der Meinung, dass Protestbewegungen in einem Land wie Deutschland, wo eine konsensbasierte politische Kultur und föderale Machtaufteilung die Instrumentalisierung sozialer Unzufriedenheit begrenze, stärker auffielen als anderswo in Europa. Zum Beispiel in Frankreich, wo es eine regelrechte Protest-Kultur gebe.
IInstabilität in Deutschland habe oft einen negativen Beigeschmack, so Kaufer. Das hänge unter anderem mit den blutigen Straßenschlachten während der Hyperinflation in der Weimarer Republik zusammen und der späteren Machtergreifung der Nationalsozialisten.
Positive Beispiele vergangener Proteste
"Es gibt ein Versagen des Diskurses unter den progressiven Kräften, positive Beispiele in der deutschen Geschichte anzuerkennen", ergänzte Kaufer. "Es gibt eine Angst vor Protesten, dass die Menschen ohne die Legitimität von Abstimmungsprozessen aktiv werden." Als positive Beispiele nannte der Forscher die ostdeutschen Straßenproteste von 1953, die Friedliche Revolution von 1989 sowie die westdeutsche Anti-Atomkraft-Bewegung in den 1970er und 80er Jahren. Diese hätten eine stärkere Verankerung im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verdient.
Deutschland war einst eines der egalitärsten Länder Europas, in dem Klasse und sozialer Status weniger Einfluss auf den Lebenserfolg hatten. Das ändert sich, da auch Deutschland einem allgemeinen Trend zu wachsender Einkommensungleichheit unterliegt. "Wir beobachten, dass diese soziale Ungleichheit nicht mehr durch soziale Mobilität behoben werden kann", sagte Susanne Pickel, Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, im Gespräch mit der DW.
Wirtschaftsmodellen zufolge werden Inflation und Energiepreise die Schwächsten des Landes unverhältnismäßig stark treffen, weil Geringverdiener über weniger Einkommen verfügen, um die höheren Kosten abzufedern. Das macht sie anfälliger für regierungsfeindliche Rhetorik als andere Einkommensgruppen.
"Pandemie, Krieg und Inflation gefährden den unteren Mittelstand", so Pickel. Wenn es nicht gelänge, diesen zu stabilisieren und die Angst vor einem dauerhaften Abstieg wachse, könne es durchaus passieren, dass in Deutschland mehr Menschen auf die Straßen gingen. "Noch virulenter ist, dass der Anschein von Lösungen durch Rechtspopulisten und die Zustimmung zur AfD das Wahlverhalten verändern können."
Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert.