Serbien und Kroatien: Vergessener Holocaust
26. Januar 2018Im Juni 1942 erreichte eine Depesche aus Belgrad das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin. "Serbien ist judenfrei", meldete stolz der SS-Standartenführer Emanuel Schäfer, Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Serbien, seinem direkten Vorgesetzten Heinrich Himmler. Damit wurde das Balkanland, etwa 14 Monate nachdem deutsche Soldaten in Belgrad einmarschiert waren, der erste Staat im damaligen Dritten Reich, der von sich behauptete, das von den Nazis proklamierte Ziel einer "Endlösung der Judenfrage" erreicht zu haben.
Einige der damals rund 12.500 Juden in Serbien wurden in deutsche Konzentrationslager wie Auschwitz, Buchenwald oder Mauthausen abtransportiert. Die meisten wurden aber in den KZs in Belgrad ermordet, darunter auch die Eltern des serbischen Schriftstellers und Publizisten Ivan Ivanji. "Im Lager am alten Messegelände (Staro sajmiste), wo etwa 6300 Juden getötet wurden, kam meine Mutter ums Leben, und im KZ Kanonen-Schuppen (Topovske supe), wo rund 3000 Menschen ermordet wurden, starb mein Vater." Er selbst wurde als Jugendlicher nach Auschwitz und Buchenwald deportiert.
Die Enkel brauchen eine Erinnerungskultur
Nachdem die serbischen Juden ermordet wurden, kamen andere Häftlinge in die drei Lager in Belgrad: Roma, Kommunisten und Partisanen, darunter auch viele Serben. Allein in dem KZ Sajmiste wurden im Laufe des Krieges etwa 40.000 Menschen gefangen gehalten und gefoltert, mehr als 10.000 kamen ums Leben.
Trotzdem erinnert heute so gut wie nichts mehr an den Holocaust in Serbien und die Gräueltaten in den Belgrader KZs: Mehr als 70 Jahre nach dem Krieg gilt das genauso wie im früheren Jugoslawien Titos. Das alte Messegelände wurde zwar 1987 zum "Kulturgut" erklärt und ein Denkmal für die Opfer errichtet, beides ist aber längst in Vergessenheit geraten, das Areal ist völlig vernachlässigt und verkommen.
"Was in Serbien gefeiert wird, sind die Kämpfe gegen den Faschismus", sagt Ivanji. Das sei auch wichtig und richtig. "Aber es wird nicht der Opfer gedacht. Sie sind nicht interessant." Letztes Jahr war er mehrmals in Deutschland, zwei Mal in Weimar und auch in Hamburg, wo er mit Schülern über den Holocaust gesprochen hat. "Doch aus Serbien kam keine einzige Einladung." Wie sich die Gesellschaft an den Holocaust erinnert, sei für die Überlebenden weniger wichtig als für die jungen Generationen: "Wir wissen, wo wir waren und was geschehen ist. Die Urenkel sollen das für sich klären, sie sollen sagen, ob sie diese Erinnerung brauchen", sagt Ivanji.
Nazi-Kollaborateur als Nationalheld
Die Belgrader KZs wurden zwar von den deutschen SS-Truppen verwaltet, doch die Quisling-Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Milan Nedic kümmerte sich darum, Juden, Roma und andere Häftlinge festzunehmen und in die Lager zu bringen. Er arbeitete bis zum Kriegsende eng mit den deutschen Besatzern zusammen.
Trotzdem läuft in Serbien schon seit Jahren ein Gerichtsprozess mit dem Ziel, Nedic und das Handeln seiner Regierung zu rechtfertigen und zu rehabilitieren. Er wird von vielen als aufrichtiger Patriot gesehen und seine Zusammenarbeit mit den Nazis als "geschickte Politik" in schwierigen Zeiten interpretiert. "Das ist unerhört!", sagt Ivanji empört. "Nedic war ein Faschist und Antisemit aus Überzeugung - und zwar schon vor dem Krieg." Das sei eine gut belegte historische Wahrheit, sagt Ivanji. Trotzdem versucht man, Nedic - genauso wie einen anderen Kollaborateur der Nazis, den Tschetnik-Führer Draza Mihajlovic - als positive historische Persönlichkeiten darzustellen und damit die Geschichte umzuschreiben.
Geschichtsrevisionismus auf der Tagesordnung
Das passt gut zu dem populistischen und nationalistischen politischen Diskurs, der seit Jahren das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien dominiert. Nicht nur in Serbien, auch im benachbarten Kroatien betreibt man seit den 1990er Jahren Geschichtsrevisionismus. Mit den verstärkten Unabhängigkeitsbestrebungen gingen die Versuche einher, die dunklen Seiten der eigenen Nationalgeschichte reinzuwaschen. "Plötzlich fing man an zu relativieren, wer im Zweiten Weltkrieg auf der richtigen und wer auf der falschen Seite war", sagt Ivo Goldstein, Historiker aus Zagreb. Ein Großteil seiner Familie wurde entweder in dem kroatischen KZ Jasenovac oder in Auschwitz ermordet.
Jasenovac war das größte Konzentrationslager in Europa, das nicht von den Deutschen betrieben wurde. Die kroatische Ustascha, ein faschistisches und von Nazi-Deutschland abhängiges Regime, gründete mit deutscher Unterstützung im April 1941 den sogenannten Unabhängigen Staat Kroatien (NDH). Das Regime übernahm sofort die Nürnberger Rassengesetze und begann mit der systematischen Verfolgung und Ermordung der Serben, Juden, Roma und oppositionellen Kroaten. Jasenovac wurde zum zentralen Sammel- und Vernichtungslager - auch als "Auschwitz des Balkans" bezeichnet. Bisher sind mehr als 83.000 Ermordete namentlich bekannt.
Nationalisten arbeiten gut zusammen
Schon der erste Präsident des heutigen Kroatien, Franjo Tudjman, hat im Rahmen einer sogenannten "nationalen Versöhnung" angefangen, die Verbrechen der Ustascha zu relativieren und sie als einen Teil der kroatischen Nationalbewegung darzustellen. Er war aber einst selbst ein General in Titos Partisanenarmee, und bestand immer auf die antifaschistischen Fundamente des neuen kroatischen Staates.
"Seit einigen Jahren hat sich das geändert", sagt Goldstein. Die neue Welle des Revisionismus sei noch radikaler, die Rollen in der Geschichte werden umgekehrt. "Heute werden in Teilen der kroatischen Öffentlichkeit die Ustascha als 'die Guten' dargestellt, weil sie Kroaten und Katholiken sind. Dagegen werden die Partisanen als Jugoslawen und Kommunisten beschimpft, und damit sind sie dann automatisch 'die Bösen'."
Der Geschichtsrevisionismus geht sogar so weit, dass die Regierung in Zagreb einen Verein finanziell unterstützt, der das KZ Jasenovac vor allem als Arbeitslager darstellen möchte, in dem eher in Ausnahmesituationen einige Insassen ums Leben kamen.
Auffällig ist dabei, dass es in Serbien und Kroatien sehr ähnliche Tendenzen zur Neuschreibung der nationalen Geschichte gibt: Die eigene Nation habe immer alles richtig gemacht. "Diese Prozesse verlaufen parallel. Serbische und kroatische Extremisten und Nationalisten arbeiten sehr gut zusammen", sagt der Zagreber Historiker Ivo Goldstein.