Holstein Kiel: mit Bedacht gegen die Bayern
12. Januar 2021Das Stadion würde aus allen Nähten platzen, die Emotionen hochkochen, die rund 15.000 Fans den Außenseiter nach vorne peitschen. Es wäre ein Fußball-Event, wie es Kiel schon lange nicht mehr erlebt hat - könnte die Partie unter normalen Umständen stattfinden. Das skizzierte Szenario bleibt in Corona-Zeiten jedoch ein Wunschtraum. Holstein Kiel muss sein "großes Spiel" gegen Rekordpokalsieger Bayern München (Mittwoch, 20.45 Uhr MEZ) ohne Zuschauer absolvieren. Dabei ist der Pokal-Hit im Ringen um die sportliche Nummer eins in der Stadt äußerst wichtig.
Die Fußballer befinden sich in einer Art Aufholjagd. "Kiel ist eine ungewöhnliche Sportstadt", sagt der Sportsoziologe Jens Flatau. Der Professor der örtlichen Christian- Albrechts-Universität findet, dass der Handball-Verein THW, der gerade zum vierten Mal die Champions League gewonnen hat und dessen Erfolgskonto 21 deutsche Meistertitel aufweist, den Fußball bislang in den Schatten gestellt habe. Jetzt laufe jedoch im Zeitraffer ab, was in anderen Städten längst gang und gäbe sei, "dass der Fußball die sportliche Szene bestimmt". In Kiel dürfte das zunächst einmal auf eine Art Mitbestimmung hinauslaufen. Zu groß ist wohl der Vorsprung der Handballer.
Nach dem Aufstieg in der Zweiten Liga etabliert
Seit drei Jahren spielt der Fußball wieder eine Rolle in der nördlichsten Großstadt Deutschlands. Da gelang den "Störchen" - der Name soll sich von den weißen Hosen und roten Stutzen der Mannschaft (wie die Störche eben) ableiten - nach 36 Jahren der Wiederaufstieg in die Zweite Liga. Fast wäre ihnen sogar der Durchmarsch in die Bundesliga gelungen. In den Relegationsspielen gegen den VfL Wolfsburg scheiterte Holstein aber knapp.
Seitdem mischen die Kieler - im Moment sind sie Dritter - immer im oberen Teil der Tabelle mit. Der Erfolg bringt aber auch Nachteile mit sich. "Wir hatten jedes Jahr immer wieder starke Umbrüche, haben Spieler und auch erfolgreiche Trainer verloren", sagt Wolfgang Schwenke, Geschäftsführer und Vizepräsident des Vereins. "Wir haben es jedoch jedes Mal geschafft, eine konkurrenzfähige Mannschaft auf den Platz zu bringen. Es bleibt unser Hauptziel, an diesen Dingen zu arbeiten."
Die Historie im Rücken
Wolfgang Schwenke, der früher selbst erfolgreicher Handballer beim THW war und vor 12 Jahren zu Holstein stieß, und seine Vorstandskollegen haben vor allem die langfristige Entwicklung ihres Vereins im Auge. "Für uns ist es wichtig, das wir Schritt für Schritt voran gehen", kennzeichnet der fürs Kaufmännische zuständige 52-Jährige den Kieler Weg. Man wolle sich nicht verausgaben, schon gar nicht finanziell. "Wir machen das norddeutsch ruhig." Zuletzt hat Holstein in das Nachwuchsleistungszentrum investiert, in Trainingsplätze mit Rasenheizungen. In den nächsten Jahren soll das altehrwürdige Holstein-Stadion weiter ausgebaut werden.
Das heutige Sportplatz-Gelände wurde bereits 1911 angelegt, zählt damit zu den ältesten Sportanlagen in Deutschland. Bereits im Jahr darauf, 1912, feierte Holstein Kiel den größten Erfolg der Vereinsgeschichte, die Deutsche Meisterschaft. 1910 und 1930 wurden die Kieler Vizemeister. "Wir sind uns der Erfolge in der Historie bewusst und tragen sie auch in den Verein hinein", begeistert sich Schwenke. "Deshalb haben wir uns entschieden, an diesem Standort zu bleiben. Davon leben auch die Fans."
Heißt das mit der kontinuierlichen Entwicklung irgendwann angestrebte Ziel Bundesliga? Für die Enthusiasten unter den Fans sicher. Die Holstein-Verantwortlichen gehen sensibler mit dem Thema um. "Das wir unser Ziel, in der Zweiten Liga zu spielen, einer von 36 Vereinen im Profifußball zu sein, umsetzen konnten, ist schon ein Erfolg", analysiert Wolfgang Schwenke. "Wenn es irgendwann mal ein Schluck mehr ist, hat keiner was dagegen." Auf ein Jahr für einen Aufstieg, will er sich jedoch nicht festlegen.
Der Kieler Weg: Schrittweise voran
Für große sportliche Ziele bedarf es auch entsprechender finanzieller Voraussetzungen. An denen arbeiten sie bei Holstein auch Schritt für Schritt. "Erst hatten wir Unterstützer und Sponsoren nur aus Kiel, danach aus der Region und dem Land Schleswig-Holstein. Jetzt gehen wir auch mal über die Grenzen hinaus", erklärt Schwenke. "Wir sehen uns als eine wachsende Holstein-Familie, haben auch keine Marketing-Agentur, sondern steuern das alles selbst."
Das DFB-Pokalspiel gegen den FC Bayern jetzt elektrisiert zwar den ganzen Verein, zu verbalen Höhenflügen lässt sich jedoch niemand hinreißen. Der junge Trainer Ole Werner (32) bringt es auf den Punkt: "Wir schau'n uns mal an, was die Bayern so machen. Dann überlegen wir uns,was wir so machen. Und dann gucken wir, was am Mittwoch so herauskommt."