"Hongkongs Kernwerte in Gefahr"
17. Mai 2016
Ein solch hocher Besuch aus Peking in Hongkong ist sehr ungewöhnlich. Zhang Dejiang ist ständiges Mitglied im siebenköpfigen Politbüro und Vorsitzender des Nationalen Volkskongresses. Er ist außerdem im Kabinett für die Angelegenheiten Hongkongs und Macaus zuständig. Normalerweise kommen die Spitzenpolitiker in den ersten Tagen im Juli, wenn die Rückkehr Hongkongs nach China gefeiert wird. Im März hatte die Staats- und Parteispitze Abgeordnete aus Hongkong am Rande des Volkskongresses in Peking empfangen.
Auch wenn offiziell die Rolle Hongkongs bei Präsident Xi Jinpings transkontinentaler Wirtschaftsinitiative "One Belt, One Road" auf der Tagesordnung Zhangs steht, wird spekuliert, dass sein Besuch im Zusammenhang mit der Wahl des nächsten Verwaltungschefs von Hongkong steht. Die Amtszeit des amtierenden "Chief Executive" Leung Chun-ying endet im März 2017. Auch der Ruf nach der Unabhängigkeit, der von einigen radikalen Gruppierungen erhoben wird, kann ein Grund für diesen ungewöhnlichen Besuch sein.
Obwohl Peking seine Kritik an der Demokratiebewegung in jüngster Zeit etwas gemäßigt hat, gibt es keine Anzeichen für eine Kursänderung, was Hongkongs weitere demokratische Entwicklung betrifft. Nach dem Ende der Straßenbesetzungen durch "Occupy Central" Ende 2014 hatten die demokratischen Parteien drei Bedingungen genannt, um die politische Polarisierung zwischen der Demokratiebewegung einerseits und der Führung in Hongkong und Peking anererseits zu überwinden.
Drei bescheidene unerfüllte Forderungen
Erstens sollten politische Beratungen zwischen allen Seiten über die Modalitäten der Wahl des "Chief Executive" im Jahr 2022 und des Hongkonger Parlaments 2020 fortgeführt werden. Eine solche Debatte hat aber bis jetzt nicht stattgefunden.
Zweitens wurde vorgeschlagen, dass die Stadtverwaltung Hongkongs eine breit angelegte Diskussion mit den Bürgern über soziale Themen anstößt, wie zum Beispiel über das Rentensystem oder die allgemeine Krankenversicherung. Konsultationen über das Rentensystem wurden zwar begonnen, aber mit so vielen Einschränkungen versehen, dass sich die meisten Betroffenen weigerten, an der Diskussion teilzunehmen.
Die dritte und eigentlich bescheidenste Forderung war die, einige Studentenanführer und junge Aktivisten in die beratenden Gremien der Stadt aufzunehmen, Gremien, die de facto unter Kontrolle der reichen und mächtigen Familien Hongkongs stehen. Leung Chun-ying und seine Regierung verschließen aber lieber die Ohren und tragen so zur weiteren Verschärfung der politischen und gesellschaftlichen Konflikte bei.
Neue radikale Gruppierungen
Sowohl bei den Wahlen der Bezirksparlamente im November 2015 und bei einer Nachwahl im Wahlbezirk "New Territories East" für einen Sitz im Stadtparlament (Legco) im Februar 2016 konnten die demokratischen Parteien beachtliche Stinmmenanteile erzielen (wenn auch nicht die Mehrheit der Pro-Peking-Fraktion brechen - Red.) Die Ergebnisse zeigen immerhin, dass auch nach den monatelangen Besetzungsaktionen und der damit einhergehenden Beinträchtigung des öffentlichen Lebens die Unterstützung der Wählerschaft für die demokratischen Kräfte anhaltend hoch ist.
Vor und nach den Wahlen der Bezirksparlamente sind einige radikale politische Gruppierungen auf den Plan getreten. Während eine dieser Gruppen sich die Unabhängigkeit Hongkongs auf die Fahnen geschrieben hat, fordern andere eine Volksabstimmung über die politische Zukunft Hongkongs. Beide Forderungen sind natürlich für Peking inaktzeptabel und würden bei Umsetzung sogar zum Einsatz der Armee führen. Dass sie trotzdem artikuliert werden, ist als Ablehnung der amtierenden Hongkonger Regierung und ihrer Legitimität und der Pekinger Hongkong-Politik zu interpretieren.
Führung nimmt Stimmungsumschwung nicht zur Kenntnis
Seit 1997, dem Jahr der Rückkehr Hongkongs nach China, bis zum Jahr 2008, dem Jahr der Olympischen Spiele in Peking, haben Meinungsumfragen deutlich gezeigt, dass sich immer mehr Einwohner Hongkongs mit China identifizierten und zunehmend Vertrauen in die Zentralregierung bekundeten. Doch dieser positive Trend veränderte sich dramatisch, insbesondere in den vergangenen drei Jahren.
Die zunehmende Einmischung Pekings in Hongkongs Angelegenheiten, die generelle Verschärfung des politischen Klimas auf dem Festland seit 2008 sowie die schroffe Ablehnung der Forderung der Bürger Hongkongs nach mehr Demokratie haben diese Veränderung der Einstellung bewirkt. Leider gibt es keinerlei Anzeichen für selbstkritisches Nachdenken auf Seiten der chinesischen Zentralregierung oder der Hongkonger Regierung.
In Pekings Augen ist Hongkong wie ein verwöhntes Kind, das die vom Festland gewährten wirtschaftliche Vergünstigungen nicht zu schätzen weiß und immer wieder überzogene politischen Forderungen stellt. Deswegen müsse Hongkong lernen, so die Kader in Peking, wo die Grenzen des Modells "Ein China, zwei Systeme" sind. Deswegen ist Peking auf seinen harten Kurs eingeschwenkt.
Die Einwohner Hongkongs, und vor allem die Geschäftsleute, sehen unterdessen mit Sorge, dass Hongkongs Rolle im chinesischen Modernisierungsprozess an Bedeutung verlieren und dass die chinesischen Küstenstädte die Dienstleistungen, die Hongkong anbietet, ebenso gut anbieten könnten. Die Folge wäre der Verlust internationaler Wettbewerbsfähigkeit.
Wahlen im September als Stimmungstest
Die anstehenden Parlamentswahlen im September werden für alle politischen Parteien eine Herausforderung sein. Es wird zwar erwartet, dass die Parteien des demokratischen Lagers ihren Anteil von etwa 55 Prozent der direkten Wählerstimmen halten können. (Es werden nicht alle Sitze im Hongkonger Parlament direkt gewählt - Red.) Aber ein Viertel der Stimmen könnte an neu entstandene radikale Gruppierungen gehen.
Gleichzeitig steht bei den etablierten demokratischen Parteien ein Generationswechsel an. Eine Vielzahl an Bewerbern um freiwerdende Sitze im Legislativrat (Hongkonger Parlament) könnte aber die Chancen des demokratischen Lagers schmälern, wird dort befürchtet.
Große Teile der Öffentlichkeit haben Sorgen wegen der politischen Spaltung der Sonderverwaltungsregion Hongkong und wegen der Schwächung der Regierungsfähigkeit der Hongkonger Führung. Mit Blick auf die Einmischung aus Peking fürchten viele Bürger um die Werte ihrer Stadt und um ihren traditionellen Lebensstil. Die Jugend wird die politische Auseinhandersetzung zunehmend auf die Straße verlagern.
Sollte der unbeliebte "Chief Executive" Leung Chun Ying mit der Unterstützung Pekings im Amt bestätigt werden, und sollte die Wirtschaft Hongkongs die Auswirkungen des langsameren Wachstums auf dem Festland zu spüren bekommen, könnte sich die politische Kultur Hongkongs weiter verschlechtern.
Joseph Yu-shek Cheng war von 1992 bis 2015 Professor für Politikwissenschaft und Koordinator des Forschungsprojekts Contemporary China an der City University of Hongkong.