Hongkongs Wahl ohne Wähler
23. März 2017Mit festem Griff umklammert die Hand der zierlichen älteren Dame den Griff ihres gelben Regenschirms, den sie trotz dem sternenklaren Märzhimmel aufgespannt hat. Den Schirm in der einen Hand, in der anderen ein ebenso gelbes Banner steht sie vor dem Tor der Pui Jing Grundschule im Stadtteil Kowloon und diskutiert mit dem Wachpersonal. In der Schule soll ein Rededuell der Kandidaten für den Posten des Regierungschefs von Hongkong stattfinden. "Ich möchte Carrie ein paar Fragen stellen", insistiert Alexandra Wong.
Gemeint ist Carrie Lam, die aussichtsreichste Bewerberin für das höchste Amt in der Stadt. Dass Alexandra sie beim Vornamen nennt ist kein Zeichen der Vertrautheit. "Ich möchte sie fragen, warum sie nichts für uns getan hat", beharrt sie. Doch die die resolute Dame mit dem Regenschirm, muss mit ihrer Frage draußen bleiben. Einfache Bürger haben keinen Zutritt zu der Veranstaltung.
Mehr als eine Empfehlung aus Peking
Dass Carrie Lam diese Wahl gewinnen wird, halten die meisten Beobachter für ausgemacht. Bevor sie im Januar ihre Kandidatur verkündete, war sie Verwaltungschefin in Hongkong. In der Stadt, die unter chinesischer Souveränität steht, aber ein eigenes politisches System, eine eigene Verwaltung und eigene Justiz hat, ist das der zweite Posten in der Regierungshierarchie nach dem "Chief Executive". "Lam weiß, wie Hongkong funktioniert", lobt sie Edmund Leung vom Hongkonger Ingenieursverband. "Es wäre ein großes Glück für die Stadt, sie zur Regierungschefin zu haben."
Auch hochrangige Politiker in Peking haben klar gesagt, dass man sich ihren Sieg bei der Abstimmung wünscht. Das ist mehr als eine Empfehlung. Denn In Hongkong wird der Regierungschef nicht vom Volk, sondern von 1200 Mitgliedern eines Wahlkomitees gewählt. Neben den gewählten Abgeordneten des Stadtparlaments sitzen dort vor allem Vertreter von pekingtreuen Berufs- und Wirtschaftsverbänden. Das System wird von vielen Hongkongern als zutiefst undemokratisch empfunden. Als die Führung in Peking im Sommer 2014 eine demokratische Reform des Systems ausschloss, wurde Hongkong wochenlang von Protesten lahmgelegt.
Die Kandidatin Carrie Lam lässt wie schon damals keinen Zweifel daran, dass es mit ihr keinen neuen Anlauf geben werde, das System zu reformieren. "Das Grundgesetz von Hongkong lässt eine allgemeine Wahl durch das Volk nicht zu", beschied sie knapp in einer TV-Debatte. Die Angriffe, die sie vor allem im Netz für solche Sätze erntet, bezeichnet sie martialisch als "weißen Terror" - in Anlehnung an die Massaker der chinesischen Nationalregierung an Kommunisten im China der zwanziger und dreißiger Jahre.
Pekings offener Einfluss ist neu
Ihre beiden Gegenkandidaten, der pensionierte Richter Woo Kwok-hing und John Tsang, bis vor kurzem Finanzsekretär Hongkongs, versuchen sich demgegenüber als moderate Reformer zu darzustellen. Insbesondere John Tsang inszeniert sich als populärer Gegenkandidat. "Ich verstehe, dass Carrie den politischen Prozess nicht neu starten möchte", antwortete er. "Sie ist daran ja bereits einmal gescheitert." Und Woo Kwok-hing versprach den Wählern: "Mein Zeitplan ist klar. Ich möchte, dass wir 2022 das allgemeine Wahlrecht haben."
Beide sind dennoch keine Oppositionspolitiker. Während der pensionierte Richter Woo Kwok-hing mehrere Jahre lang die Wahlbehörde leitete, diente John Tsang als Finanzchef in derselben Regierung wie Carrie Lam. Offenbar spekulieren sie darauf, dass am Ende genug Delegierte des Regierungslagers Bauchschmerzen mit der umstrittenen Kandidatin Lam haben werden. Dass ihr Kalkül aufgeht, ist aber fraglich. Fast die Hälfte der Delegierten hat Carrie Lam bereits ihre Stimme zugesagt. Zudem scheint Peking deutlichen Druck auszuüben. Mehrere Delegierte berichteten in den vergangenen Tagen, Anrufe von Vertretern Pekings erhalten zu haben, die sie eindringlich zur Wahl Lams aufforderten.
Dass die Regierung in Peking so offen Einfluss auf die Wahl nimmt, ist neu. Und es fügt sich in das Bild, das viele Hongkonger von ihrer Stadt haben. 20 Jahre nach der Übergabe der ehemaligen Kolonie von Großbritannien an China nehme Peking immer ungenierter Einfluss auf die inneren Belange der Stadt, finden viele Hongkonger.
Gesicht der Regenschirm-Generation im Parlament
Bei den letzten Parlamentswahlen im Dezember zog deshalb sehr zum Ärger Pekings eine Reihe von Vertretern der Protestgeneration ins Parlament. Als "Lokalisten", setzen sie sich dafür ein, Hongkong ganz aus dem Einfluss Pekings zu lösen. Nathan Law ist einer von ihnen. Schlurfenden Schritts geht er den langen Korridor in Hongkongs modernem Parlamentsgebäude entlang. Eine schwarze runde Brille hängt vor seinem jungenhaften Gesicht.
2014 war Law einer der Anführer der Proteste, jetzt ist er mit 23 Jahren der jüngste Abgeordnete, der je im Hongkonger Stadtparlament gesessen hat. Wie lange er sein Mandat behalten wird, weiß er allerdings nicht. Weil er beim Amtseid die nötige Feierlichkeit vermissen ließ, wird vor Gericht über seinen Verbleib im Parlament verhandelt. Zwei andere "Lokalisten" wurden bereits ausgeschlossen. Bei der Wahl zum Regierungschef wird Law aber auf jeden Fall noch mitstimmen dürfen. Der Abgeordnete zuckt mit den Schultern. Er habe sich noch nicht überlegt, ob er sich enthalten werde oder seinen Protest anders zum Ausdruck bringen wird. Seine Unterstützung habe keiner der Kandidaten. "Sie müssen nicht um die Stimmen des Volks kämpfen", kritisiert er. "Also gehen sie nicht raus und reden nicht mit den Leuten. Sie haben keine Ahnung vom Leben der Menschen in der Stadt."
Zu Alexandra Wong mit ihrem Protestschirm haben sich inzwischen weitere Aktivisten gesellt. "Geschlossene Türen sind eine Schande", skandieren sie in ohrenbetäubendem Lärm in Megafone und tragbare Lautsprecher, während innen die Debatte der Kandidaten beginnt. Im Publikum sitzen ausschließlich Delegierte der Wahlversammlung. Ganz leise dringt in den Redepausen ein feines Rauschen von draußen in den Saal.