Horst Pilarzik, der Schrecken des Krakauer Ghettos
26. Februar 2020Ein sportlicher Mercedes hält neben dem Bürgersteig. Hinter dem Lenkrad sitzt ein attraktiver Mann. Er signalisiert dem wartenden Jungen einzusteigen, dann fahren sie los. Der Mercedes rast durch die weiten Straßen des wiedererrichteten Frankfurt am Main. Die 1950er-Jahre neigen sich dem Ende zu. Die Gebäude im Stadtzentrum riechen nach Neuanfang. Vor den Schaufenstern frönen die Massen dem Konsum. Es sind die Jahre des deutschen Wirtschaftswunders.
Der Mann am Steuer ist Horst Burkhart, um die vierzig, Hotelmanager. Der halb so alte Beifahrer ist sein Neffe Jochen. Wahrscheinlich ist Jochen beeindruckt. Horst ist reich und umgibt sich mit attraktiven Frauen, die er auf Yachtfahrten mitnimmt. Jochen und Horst mögen sich, abends treffen sie sich in Frankfurter Bars. Horst trinkt gerne.
Jahre später spricht Jochen nur widerwillig über die Treffen. Seine Tochter Christiane drängt ihn, aber er schiebt Vergesslichkeit vor. "Ach, Chrissie, das ist so lange her", sagt er. Im hohen Alter scheint er Horst völlig zu verdrängen. Er reagiert automatisch, wenn Christiane ihn fragt, ob er wisse, dass Horst Hunderte, wenn nicht Tausende von Juden nach Auschwitz geschickt hat. "Echt? Das ist ja furchtbar", antwortet er jedes Mal mit Überraschung.
"Der Name Horst schwirrte seit meiner Kindheit um mich herum, man hat so merkwürdig über ihn geredet, etwas stimmte mit dem nicht", erinnert sich Christiane Falge, Jochens Tochter. Sie - 1970 geboren - ist es, die sich der Familie zum Trotz entschieden hat, die Geschichte von Horst Burkhart ans Licht zu bringen. Sie selbst hat ihn nie getroffen, er starb fünf Jahre vor ihrer Geburt.
"Die ganze Familie wusste Bescheid, dass Burkhart sein falscher Name war, und sie hat dieses Versteckspiel mitgespielt. Man hat immer gesagt, auf keinen Fall verraten, dass er Horst Pilarzik heißt, wir durften nicht sagen, dass er zu unserer Familie gehört", erinnert sie sich.
Der Schrecken des Ghettos
Nach den Deportationen aus dem Krakauer Ghetto im Oktober 1942 errichten die deutschen Besatzer auf dem Gelände zweier jüdischer Friedhöfe im Krakauer Stadtteil Płaszów ein Arbeitslager. Die Funktion des Lagerkommandanten fällt einem jungen SS-Unterscharführer zu: Horst Pilarzik. Der Unteroffizier war zuvor Mitglied der Eliteeinheit Leibstandarte SS Adolf Hitler. In Płaszów beaufsichtigt er eine Gruppe von etwa 200 Arbeitern, die täglich das Ghetto verlassen, um Grabsteine zu entfernen und Lagerbaracken zu errichten.
Mieczysław Pemper, Mitglied des von den Deutschen ernannten Judenrats und Häftling im Lager Plaszow, erinnert sich an einen Mann, vor dem das ganze Ghetto Angst hatte. Pilarzik soll eine Gruppe Juden erschossen haben, die nach der Arbeit ins Ghetto zurückkehrten. Aus Pempers Bericht kennen wir Pilarziks Rechtfertigung: Er habe erst vor kurzem die SS-Schule absolviert und zum ersten Mal in seinem Leben so viele Juden gesehen. "Über Pilarzik kann man nichts Gutes sagen", sagte Pemper, als er nach dem Krieg über deutsche Verbrecher in Krakau aussagte.
Pilarzik leitet das Lager nur wenige Wochen lang. Um die Jahreswende 1942/1943 wird er von SS-Oberscharführer Franz Josef Müller abgelöst. Aber er bleibt in Krakau. Zwischen dem 13. und 14. März 1943 ist er an der Liquidation des Ghettos beteiligt, bei der etwa 2.000 Menschen sterben und 1.500 weitere nach Auschwitz geschickt werden.
Ein Mantel aus Plaszow
Christiane Falge, Professorin an einer Hochschule, erinnert sich an Geschichten über Kleidung, die Horst während des Krieges an Verwandte in Gleiwitz verteilte. "Er hat Kinderkleidung und Kinderschuhe mitgebracht als Geschenke für meinen Vater, der sie dann getragen hat. Ganz tolle Kinderstiefel, tolle warme Kindermäntel", sagt sie. Sie vermutet, dass sie Gefangenen aus Plaszow oder Auschwitz gehörten. Wie sonst würde ein Krakauer SS-Mann in dieser Zeit an Kleidung kommen?
Mitte 1943 wurde Horst Pilarzik Adjutant des dritten Lagerkommandanten, SS-Hauptsturmführer Amon Göth. Wenig später wurde er nach Riga versetzt, möglicherweise wegen seiner Alkoholexzesse.
Pemper beschreibt, wie er den betrunkenen Pilarzik in einem Krakauer Casino rufen hört: "Findet sich denn kein Stuhl für einen Ritterkreuzträger?" Man reichte ihm den Stuhl, aber als sich herausstellte, dass Pilarzik kein solches Abzeichen besaß, wurde er aus Krakau wegdelegiert. Eine andere Erzählung legt nahe, dass man ihn betrunken und schlafend auf einer Straße der Stadt fand.
Die Flucht vor dem Leben
In der Familie hieß es, er hatte Probleme mit Alkohol, war aggressiv und hatte viele Affären mit Frauen, erzählt Christiane Falge. "Sein Leben nach dem Krieg war ein Leben auf der Flucht, er hat gesoffen, er hat Frauen verprügelt, häufig seinen Wohnort gewechselt, offenbar hatte er Angst, dass die Wahrheit über seine Vergangenheit irgendwann ans Licht kommt", so Falge.
Pilarzik lebte als Horst Burkhart in Berlin, München, Frankfurt und im Ruhrgebiet. Obwohl er kein gebildeter Mann war, fand er gut bezahlte Arbeit in Hotels. Er hatte einen Sportwagen, segelte, ritt. Er zog attraktive Frauen an.
Aber seine Vergangenheit war immer wieder präsent. Christianes Mutter erinnert sich an den Besuch zweier Männer, die in den 1960er-Jahren nach Pilarzik suchten. War es die Polizei? Waren es israelische Agenten? Seit Kriegsende wurde er von Institutionen gesucht, die Kriegsverbrecher jagten. Seinem Fall nahm sich auch die Bezirkskommission zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Krakau an. Ohne Erfolg. Pilarzik verstarb plötzlich 1965.
Die Täter zeigen
Ohne Falges Entschlossenheit wäre das Nachkriegsleben von Pilarzik wahrscheinlich ein Geheimnis geblieben. Im Jahr 2018 nahm sie Kontakt mit dem Museum Krakau auf und erzählte die Geschichte ihres Verwandten. Sie möchte, dass die Welt von seinen Verbrechen erfährt. "Es ist wichtig, dass man die Täter aufdeckt, wie die Kommandanten der Lager, und an ihre Schuld erinnert", sagt sie.
Falge gibt zu, dass sie Zeit benötigte, um sich mit dem braunen Kapitel ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen. "Ich glaube nicht, dass es gut tut, wenn man diese Taten verschweigt", sagt sie. "Ich gehe der Aufgabe nach, diese Geschichte aufzudecken und ans Licht zu bringen, und dadurch fühle ich mich besser. Die unguten Gefühle über das Schweigen meiner Familie über den Massenmörder Horst belasten mich nicht mehr so stark".
Als Wissenschaftlerin forscht Falge zum Thema Diversität. Sie engagiert sich in Initiativen gegen Diskriminierung und Rassismus. Sie sagt, sie wolle ihre Kinder mit Werten wie Toleranz und Humanismus großziehen, damit so etwas wie die Nazi-Ideologie niemals zurückkehrt.
"In unserem Haus haben wir Menschen aus aller Welt zu Gast. Für unsere Kinder ist es normal, dass nicht jeder Deutsch ist und nicht jeder Deutsch spricht. Sie wissen, dass Vielfalt bereichert", betont sie. "Das ist wahrscheinlich das Positive, das sich aus der ganzen Geschichte ergibt", sagt sie nach kurzem Überlegen. Sie hofft, dass ihre Kinder der Gesellschaft etwas anderes geben werden als die Familie ihres Vaters.