Humanitäre Hilfe im Fadenkreuz
18. August 2014Die Zahlen klingen dramatisch: Im Jahr 2003 zählte die Initiative aidworkersecurity.org weltweit 63 Zwischenfälle, bei denen 143 humanitäre Helfer entführt, verletzt oder sogar getötet wurden. Bis 2013 stieg diese Zahl auf 251 Zwischenfälle mit 460 Opfern.
Angesichts dieser Zahlen schlagen große und kleine Hilfsorganisationen Alarm. Und auch UN und EU wollen auf das Problem aufmerksam machen und haben zum Welttag der Humanitären Hilfe am 19. August Plakate geklebt sowie Kampagnen in den sozialen Medien initiiert. Unter den Hashtags #humanitarianheros, #ProtectOurVolunteers , #Ihonour oder #WHD2014 rufen unzählige Nutzer zum Schutz und Respekt für die humanitären Helfer auf, die sich in allen Konflikten als neutraler Partner aller Seiten verstehen.
Seit nunmehr fünf Jahren gibt es den Welttag der Humanitären Hilfe. Der 19. August wurde als Datum gewählt, weil im Jahr 2003 an jenem Tag die UN-Vertretung in der irakischen Hauptstadt Bagdad durch ein Bombenattentat zerstört wurde. 21 Menschen starben – unter ihnen der Brasilianer Sérgio Vieira de Mello, der als möglicher Kandidat für den Posten des UN-Generalsekretärs galt.
Es trifft meist Einheimische
Die Statistiken zeigen jedoch, dass es vor allem die lokalen Mitarbeiter der Hilfsorganisationen sind, die angegriffen oder entführt werden. In absoluten Zahlen betrachtet, geraten ausländische Helfer dagegen nicht so häufig ins Fadenkreuz. Sie sind meist in Führungspositionen. Folglich gibt es in den Projektländern weniger "Internationals" als "Locals" im Dienste der Hilfsorganisationen.
Auch bei den Organisationen selbst gibt es Unterschiede. Am häufigsten werden kleine Institutionen in entlegenen Gebieten attackiert, wo Schutz relativ schwierig ist. Nehmen Kämpfe jedoch an Intensität zu, werden große Organisationen wie die UN oder das Rote Kreuz angegriffen – ein Kalkül dürfte die größere Aufmerksamkeit sein, die solche Attacken erzeugen.
Neues Bedrohungsszenario?
Der Bochumer Völkerrechts-Professor Hans-Joachim Heintze von der Ruhr-Universität macht ein verändertes Kriegsbild für die vermehrten Angriffe auf humanitäre Helfer verantwortlich. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 stünden sich in den meisten Kriegen sich keine Armeen mehr gegenüber, sagte er der Deutschen Welle. Oftmals kämpften terroristische Gruppen, deren Ziel das Stören von staatlicher Ordnung sei. Zwar griffen auch Kriminelle Hilfstransporte an, aber das eigentliche Problem sei ein anderes: "Kriegsparteien wie islamische Fundamentalisten und Terroristen setzen humanitäre Hilfe gleich mit westlichem Denken und das macht natürlich die Arbeit im Feld enorm schwer."
Heintze, der im Verbund von neun europäischen Universitäten humanitäre Helfer ausbildet, macht seine Aussage an einem Beispiel fest: "In Afghanistan verwendet das Rote Kreuz das Schutzzeichen des Roten Kreuzes nicht mehr, weil die terroristische Netzwerke dieses Kreuz als ein westliches Symbol sehen. Das hat dazu geführt, dass es geradezu zum Angriffsziel wurde."
Gestützt wird Heintzes Feststellung von einer Untersuchung der Humanitarian Policy Group. Demnach stellen sowohl die Taliban in Afghanistan als auch die Al-Schabaab-Milizien in Somalia westliche Hilfsorganisationen unter Generalverdacht. Die Organisationen verfolgten ihren eigenen Vorteil oder spionierten im Auftrag des feindlichen Lagers, so der Vorwurf.
Zwischenfälle werden genauer verfolgt
Die US-Wissenschaftlerin Larissa Fast sieht jedoch noch mehr Gründe. Zwar gebe es unbestritten mehr Zwischenfälle mit humanitären Helfern und manche Regionen seien besonders gefährlich, aber ein ganz wesentlicher Grund für die gestiegenen Zahlen sei eine veränderte Berichterstattung. "In den späten 1990er Jahren haben wir das nicht so verfolgt wie heute", argumentiert Fast. Wenn man diesen Faktor und die Tatsache, dass mehr humanitäre Helfer weltweit im Einsatz seien, berücksichtige, dann sei die Entwicklung nicht ganz so dramatisch.
In ihrem Buch "Aid in Danger", das gerade erschienen ist, untersucht sie die Ursachen für den dennoch steigenden Trend. Und Fast gibt den Helfern eine Mitschuld: "Ich denke, ein weiterer Grund für die Zunahme ist, dass die Organisationen ein höheres Risiko akzeptieren, um in gefährlichen Umgebungen weiter arbeiten zu können", sagte sie der DW. Die nun ständige Riskoanalyse bindet nach ihrer Ansicht zudem viele Ressourcen bei den Organisationen.
Heintze bewertet die Lage dagegen anders. Als Konsequenz der neuen Bedrohungslage seien Sicherheitsstandards und Ausbildung der Helfer wesentlich verbessert worden. Ihm zufolge sind die Hilfsorganisationen auch aus Sicherheitsgründen mittlerweile besser verwurzelt: "Wir verlassen uns auf gute Partner in den Ländern und stellen sicher, dass wir nicht als Fremdkörper in den Gesellschaften verstanden werden. Es wird mit den lokalen Akteuren zusammengearbeitet, um zu zeigen, dass es nicht irgendeine arrogante Art der Bevormundung der Bevölkerung ist."
Entfremdung durch mehr Schutzmaßnahmen?
Fast hat aber auch daran Zweifel: Die stärkeren Schutzmaßnahmen für Unterkünfte und Büros, in denen "Internationals" wohnen und arbeiten, sowie die ständige Wachsamkeit seien inzwischen ein Teil des Problems. "Die lokalen Mitarbeiter gehen abends nach Hause zu ihren Familien. Die internationalen Helfer bleiben aber in den Anlagen und verbringen viel mehr Zeit unter sich. In einigen Fällen führt das zur Entfremdung von internationalen Helfern, lokalen Kräften und der Bevölkerung vor Ort. Dabei ist doch gerade der Kontakt zu den Menschen ein wesentliches Anliegen des Humanitarismus - doch genau das wird durch die Trennung untergraben."
Die bereits erwähnte Untersuchung der Humanitarian Policy Group fordert von den Organisationen eine Rückbesinnung, um tatsächlich als neutraler Partner akzeptiert zu werden und dadurch einen gewissen Schutz zu bekommen: "Es reicht nicht, wenn Hilfsorganisationen immer betonen, überparteilich, neutral und unabhängig zu sein: Sie müssen sich entsprechend verhalten und wertvolle sowie bedarfsorientierte Programme abliefern."