Tagebücher von Max Frisch und Ingeborg Bachmann
5. Mai 2010Vom Ende der fünfziger bis in die frühen sechziger Jahre waren Ingeborg Bachmann und Max Frisch ein Paar gewesen, dann hatte die Beziehung ein Ende mit Schrecken genommen, jedenfalls für die österreichische Dichterin. Noch Jahre später zeichneten beide in ihren Romanen Bilder des jeweils Anderen – was einmal fürs Leben hatte taugen sollen, war in die Literatur, ins Reich der Imagination abgewandert. Dass jetzt die nachgelassenen Tagebücher von Ingeborg Bachmann und Max Frisch zur gleichen Zeit im selben Verlag erscheinen, hat da etwas Seltsames, auch Berührendes: Beide Autoren haben keinen Einfluss mehr darauf, wann welche ihrer Texte die Öffentlichkeit erreichen, und so stehen sie, im Leben in Schmerz und Hass getrennt, nun noch einmal nebeneinander.
"Ich besuche kaum Friedhöfe"
Natürlich könnten ihre Tagebücher unterschiedlicher nicht sein, allein aus Gründen des Lebensabschnitts, in dem sich die Autoren zum Zeitpunkt der Aufzeichnungen befanden: Ingeborg Bachmann, achtzehnjährig, am Ende des Zweiten Weltkriegs, sodann im eben beginnenden Frieden in Kärnten – Max Frisch, in seinem achten Lebensjahrzehnt, in New York, Zürich und Berzona, den Falkland-Krieg und die neue Kriegsrüstung unter Präsident Ronald Reagan beobachtend. Nur einmal taucht der Name der früheren Geliebten auf: "Seit dem Tod der Ingeborg Bachmann bin ich nie in Klagenfurt gewesen, wo sich ihr Grab befindet", lesen wir. "Es drängt mich nicht dazu. Auch wenn es ohne Reise zu machen ist, ich besuche kaum Friedhöfe."
Im Zeichen von Alter und Tod, unter dem Eindruck des Sterbens naher Menschen, steht Max Frischs in den achtziger Jahren zur Veröffentlichung vorbereitetes, jedoch nicht zu Ende bearbeitetes und schließlich verworfenes Tagebuch – dasjenige Ingeborg Bachmanns erzählt vom Aufbruch ins Leben.
"Ich lebe ja, ich lebe"
Unter dem 14. Juni 1945 steht dort: "Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde – das wird der schönste Frühling und Sommer bleiben. Vom Frieden merkt man nicht viel, sagen alle, aber für mich ist Frieden, Frieden! (…) Ich werde studieren, arbeiten, schreiben! Ich lebe ja, ich lebe. O Gott, frei sein und leben, auch ohne Schuhe, ohne Butterbrot, ohne Strümpfe, ohne, ach was, es ist eine herrliche Zeit!"
Auch Ingeborg Bachmann hatte ihre Jugend-Aufzeichnungen, die im Juni 1945 enden, offenkundig überarbeitet; sie benötigte sie für ihr Roman-Projekt "Der Fall Franza", in dem sich etliche der hier festgehaltenen Stimmungen und Situationen wiederfinden. Nicht zuletzt die Begegnung der jungen Abiturientin aus einer Kärntner Nazi-Familie mit einem jungen jüdischen Besatzungsoffizier, der sich mit einem Kindertransport aus Wien nach England hatte retten können, spielt in beidem eine Rolle. "Alle reden über mich", heißt es im Tagebuch, "und natürlich auch die ganze Verwandtschaft. 'Sie geht mit dem Juden'."
Spur ins Künftige
Damit ist eine Spur ins Künftige vorgezeichnet, nicht nur auf der persönlichen Ebene (Liebesbeziehungen Bachmanns mit jüdischen Emigranten wie Hans Weigel und Paul Celan werden folgen), sondern ebenso auf der literarischen: Der späte "Todesarten"-Romanzyklus greift auf diese prägende Erfahrung zurück. Den nur wenige Seiten umfassenden Aufzeichnungen hat der Herausgeber erfreulicherweise auch die Briefe angefügt, die der 1946 nach Palästina auswandernde Soldat Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann schrieb – ein berührendes Zeugnis dessen, wie die Kinder der Täter und der Opfer miteinander bindende Grundlinien eines neuen Lebens zu fixieren versuchten; für Jack Hamesh und Ingeborg Bachmann beruhten sie auf gemeinsam gelesener Literatur.
Blick zurück
Ganz anders, unvermeidlich, in Max Frischs "Entwürfen zu einem Tagebuch": Hier bestimmt der Blick zurück auf gelebtes Leben auch die Wahrnehmung der Gegenwart. Wir sehen den Autor pendeln zwischen den Kontinenten, zwischen seinen Häusern, Wohnungen und Reisezielen, Freunden, Geliebten – knapp zehn Jahre vor seinem Tod Blicke allesamt des Abschieds, die sich schließlich bündeln in einem nur noch in der Phantasie entworfenen Landhaus in New England, in dem Tote und Lebende einander begegnen. Ohne Sentimentalität, mit einer immer wieder auch ironischen Sicht aufs eigene Gebaren, wird hier gemustert, was das Leben war und (noch) ist. Bei einer Bergbesteigung notiert Frisch: "Es geht, ja, man muss nicht auf mich warten, ich brauche keine Rast, nein, nur rede ich gar nicht und höre wenig, ausgenommen das Herz – Was sonst noch abnimmt: Der Ehrgeiz / Die Geduld mit Erinnerungen / Die Reue / usw."
Wer die zufällige Begegnung der Tagebücher Ingeborg Bachmanns und Max Frischs lesend mitvollzieht, dem erschließen sich so zwei Leben in ihren Grundzügen, einmal von deren Anfang, im anderen Fall von deren Ende her gesehen. Jenseits der konkreten Biografien erwachen dabei Zeiten neu, die inzwischen längst Teil unserer eigenen Erinnerung sind: Stoff also für eigene Bilanzen.
Autorin: Frauke Meyer-Gosau
Redaktion: Gabriela Schaaf
Frauke Meyer-Gosau ist Literaturkritikerin und arbeitet als Redakteurin und Autorin der Zeitschrift "Literaturen" in Berlin.
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Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Hg. und mit einem Nachwort von Peter von Matt. Suhrkamp, Berlin 2010. 213 S., 17,80 Euro
Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann. Hg. und mit einem Nachwort von Hans Höller. Suhrkamp, Berlin 2010. 107 S., 15,80 Euro