"Ich habe die ganze Nacht geweint!"
9. Oktober 2013Am Tag, als Mati Ofore in Libyen in ein überfülltes Boot in Richtung Europa stieg, konnte Johnson Ofore seinen jüngeren Bruder nicht erreichen: Er konnte nicht ein letztes Mal auf Mati einreden, die gefährliche Überfahrt nach Europa zumindest zu verschieben und stattdessen in Libyen nach einer Arbeit zu suchen. "Ich hatte ihm immer wieder gesagt: Ab Oktober ist das Meer viel zu gefährlich für eine Überfahrt!" Der Ghanaer zuckt die Schultern. Verabschieden konnte er sich von Mati auch nicht. Wenig später klingelte Johnsons Handy: "Mein Vater war dran. Er hat gesagt: Dein Bruder ist gestorben."
Johnson senkt den Blick. Sein Bruder war ertrunken: Mati Ofore war einer von Hunderten Flüchtlingen, deren überfülltes Boot Anfang Oktober vor Lampedusa in Seenot geriet und kenterte. Mehr als 270 Flüchtlinge starben. Täglich versuchen Menschen, dem Krieg, der Armut und Perspektivlosigkeit in ihren Heimatländern zu entfliehen und stechen in See, um nach Europa zu gelangen. Wie viele Menschen bei der Überfahrt auf überfüllten, oft baufälligen Booten umkommen, weiß keiner. Es dürften Hunderte, sogar Tausende sein.
"Der traurigste Tag meines Lebens"
"Lampedusa - Village in Berlin" steht auf einem großen, etwas ausgeblichenen Banner, das über einer kleinen Zeltstadt mitten in Berlin-Kreuzberg hängt: Hier leben seit über einem Jahr Flüchtlinge aus aller Welt, die gegen die Asylbedingungen in Deutschland protestieren. An den grauen Zelten trocknet Wäsche, neben einer großen Plastik-Kaffeekanne steht eine Kiste mit kleinen grünen Äpfeln, in der Küche, ebenfalls ein Zelt, liegen schmutzige Teller und vom Regen aufgeweichtes Brot. Ein paar Männer stehen unter einem Baum und reden. Viele von ihnen sind wie Johnson und Mati Ofore in überfüllten Booten in See gestochen und haben dabei Freunde, Geschwister und auch Kinder verloren. "Aber die Journalisten kommen nur, wenn ein großes Boot sinkt", sagt ein junger Mann. Seine Stimme klingt spöttisch und wütend.
Der Nigerianer Bashir nickt. "Europa tut doch gar nichts, um die Flüchtlinge zu retten." An den 27. Mai 2011 erinnert sich der 40-Jährige genau. An dem Tag kenterte das Schiff, in das ihn libysche Soldaten gedrängt hatten, vor Lampedusa. Bashir, der in Tripoli auf einer Baustelle gearbeitet hatte, wurde gerettet. Seine beiden kleinen Kinder aber starben. "Das war der traurigste Tag meines Lebens." Auch Bashirs Stimme klingt wütend, vorwurfsvoll: Die Flüchtlinge hätten Notrufe an die italienische, die tunesische, sogar die maltesische Küstenwache abgesandt - die Hilfe hätte die Flüchtlinge aber viel zu spät erreicht.
Nur Erinnerungen bleiben
Auch Johnson wird den Tag nicht vergessen, an dem sein jüngerer Bruder vor Lampedusa starb. "Ich habe den ganzen Tag geweint", sagt der 43-Jährige leise. Seitdem habe er kaum schlafen können. Er sitzt in seinem düsteren Zelt auf der kleinen Pritsche, die er sich seit sechs Monaten mit einem anderen Flüchtling teilt. Johnson kramt Fotos aus einem kleinen Koffer: Seine Schwester, die in Ghana lebt, lächelt in die Kamera. Ein Bild von seinem Bruder Mati aber hat er nicht. Auch nicht von Matis drei kleinen Kindern, die sein Bruder in Ghana gelassen hatte, denen er Geld aus Europa schicken wollte.
"Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass er in Libyen eine Arbeit finden soll", Johnson schüttelt den Kopf. Trotzdem möchte er in Deutschland bleiben und eine Arbeit finden, irgendeine. Schließlich muss er sich jetzt auch noch um die Familie seines Bruders kümmern - der Bruder, von dem er sich nicht einmal verabschieden konnte.