Paris in Zeiten des Terrors
25. November 2015DW: Frau Lustiger, wie fühlt sich das Leben in Paris zur Zeit an?
Lustiger: Ich habe das Gefühl, dass die Leute aus ihrer Schockstarre erwachen und versuchen, etwas zu tun. Es gibt viele, viele Initiativen. Zum Beispiel habe ich gelesen, dass aus dem Konzertsaal Bataclan Menschen versucht haben, die Polizei anzurufen, eine Person hat das 70 mal versucht und kam immer nicht durch. Und es gibt jetzt Initiativen von Start-ups, die Applikationen machen, damit man schneller den Kontakt mit der Polizei herstellen kann. Es gibt Initiativen von Schriftstellern, von Künstlern. Jeder versucht mit seinen Mitteln, etwas zu tun, weil man nicht in dieser Opferhaltung verharren möchte.
Überwiegt eher das Gefühl der Bedrohung oder der Wille, gerade jetzt normal weiterzuleben?
Was bedeutet normal? Frankreich ist im Ausnahmezustand! Überall sind Polizisten und auch Militär, die Plätze schützen. Es geht darum, mit dieser Bedrohung so normal wie möglich weiterzuleben, und vor allen Dingen, nicht passiv zu sein. Die Leute haben das Gefühl, dass sie sich wehren müssen.
Der französische Staatspräsident redet von Krieg, der Ministerpräsident will, dass die EU weniger Flüchtlinge aus dem Nahen Osten aufnimmt. Entsteht da nicht eine allgemeine Verdächtigung von Muslimen?
Das gibt es natürlich auch, und es gab auch schon Angriffe auf Moscheen. Aber unter den Opfern gab es auch Muslime. Und die Zivilgesellschaft hat ganz genau begriffen, welchen Werten der "Islamische Staat" den Krieg erklärt hat. Das war das Miteinander. Sie sind an einem Freitagabend in ein Ausgehviertel gegangen, haben Leute im Restaurant, im Café, in einer Konzerthalle und in einem Fußballstadion angegriffen. Die Opfer waren urban und jung, weltgewandt, sie saßen nebeneinander, verkehrten miteinander. Da waren viele mit Migrationshintergrund, aus Burkina Faso, dem Kongo, Algerien, aus den Vororten von Frankreich, auch Spanier, Engländer. Das heißt, es ist genau diese Zivilgesellschaft, der der "Islamische Staat" den Krieg erklärt hat und die er als dekadent bezeichnet. Und die Franzosen haben das sehr wohl begriffen und auch, dass sie zusammenhalten müssen. Dieser Wille des Jetzt-erst-recht-Zusammenhalten überwiegt gegenüber einzelnen Attentaten auf Moscheen.
In Deutschland sagen viele, Frankreich habe bei der Integration der Muslime und vor allem der jungen Männer versagt und bekomme jetzt die Folgen zu spüren. Sehen Sie das auch so?
Natürlich. Aber da muss man differenzieren. Natürlich gleichen sich die Täterprofile. Das sind oft Männer, die davor Kleinkriminelle waren, die sich in den Gefängnissen oder in Moscheen, die jetzt endlich geschlossen werden, durch Hassprediger haben aufhetzen lassen. Sie kommen meistens aus den Vororten. Sie haben die Schule nicht abgeschlossen. Sie waren Kleinkriminelle und mutierten dann irgendwann zu heiligen Kriegern. Aber es gibt Millionen Muslime in Frankreich, die auch ausgegrenzt wurden, die sich auch mit Rassismus herumschlagen mussten, und nicht alle werden Soziopathen. Was überwiegt, ist, dass diese jungen Männer eine Gewaltbereitschaft haben, und die leben sie jetzt im Dschihadismus aus. Aber das ist nur eine Minderheit.
Glauben Sie, dass Sie als Jüdin in Paris die Bedrohung anders und vielleicht stärker empfinden als andere?
Natürlich, ganz klar. Die Juden sind, weil sie Juden sind, ein Ziel. Die Juden werden in Frankreich bedroht wegen ihrer Religionszugehörigkeit. 2014 gab es über tausend antisemitische Übergriffe.
Mehr durch Muslime oder mehr durch die Rechten?
Durch Muslime. Das muss man sich mal vorstellen, was das bedeutet! Und das geht von Anspucken, Mobbing bis hin zu Vergewaltigungen, Folter und Mord.
Und viele sagen inzwischen, sie seien in Frankreich oder insgesamt in Europa nicht mehr sicher, sie wollten nach Israel auswandern. Denken Sie auch daran?
Ich natürlich nicht. Ich bin überzeugte Europäerin. Ich lasse mir mein Europa nicht nehmen!
Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat zumindest indirekt eine Verbindung zwischen den Pariser Attentaten und den Flüchtlingen gezogen und eine Obergrenze gefordert, die die Bundeskanzlerin ja ablehnt. Und er hat auch gesagt, viele Flüchtlinge seien Antisemiten. Er hat damit gleich zwei Tabus in Deutschland gebrochen und ist dafür heftig kritisiert worden. Wie sehen Sie das?
Ich finde, dass man kein Gefühl der Bedrohung herunter- und kleinreden darf. Dass Schuster sich bedroht fühlt im Namen der Juden in Europa, in einem Europa, in dem Juden von radikalisierten Muslimen getötet werden, weil sie Juden sind, das muss man zur Kenntnis nehmen, Punkt. Ich nehme an, dass er befürchtet, dass es unter den Flüchtlingen auch Antisemiten gibt. Das liegt auf der Hand, mein Gott! Diese Leute wurden in Ländern sozialisiert, in denen Antisemitismus an der Tagesordnung ist. Das Feindbild der Syrer war - in den arabischen Ländern sagt man nicht Israel, sondern Jahud, Jahud heißt Jude. Diese Länder haben die Juden und Israel jahrzehntelang als Sündenböcke benutzt. Dass es da unter den Flüchtlingen antisemitische Klischees gibt, scheint mir offensichtlich.
Die deutsch-jüdische Schriftstellerin Gila Lustiger lebt sein vielen Jahren in Paris.
Das Gespräch führte Christoph Hasselbach.