1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Glaube

„Ich will, dass du bist.“ oder: „Unterbiete dich nicht!“

29. Oktober 2021

Manche Menschen verstehen es, das in anderen Menschen wachsen und gedeihen zu lassen, was Gott in ihnen angelegt hat. Und so schwer ist das eigentlich gar nicht.

https://p.dw.com/p/429nJ
Abstrakte Malerei I „40 Tage“  von Patrik Schoden
Bild: Patrik Schoden

Es gibt Menschen, die andere Menschen wachsen lassen

 

Ich habe eine Freundin, die so selbstverständlich wie wunderbar in ihrer Umgebung gärtnert: Findet sie eine Idee genial, dann sagt sie das. Gefällt ihr ein Wortbeitrag, meldet sie es zurück. Gestaltet sich ein Kontakt schwierig, dann sucht sie nach einem Andockpunkt, um dennoch in Beziehung zu kommen. Sie sieht Menschen an, interessiert sich für sie, traut ihnen etwas zu, freut sich mit ihnen. An ihr erlebe ich Zuneigung: Sie wendet sich Menschen zu und man kann dabei zusehen, wie diese in ihrer Gegenwart aufrechter stehen, größer werden und wachsen.

 

Ich habe einen Kollegen, der kann so Feedback geben, dass ich mich nicht klein fühle. Er findet die richtigen Fragen und die richtigen Worte. Vermutlich hat er irgendwann einmal Feedbackregeln gelernt. Aber es ist nicht das regelkonforme Verhalten, sondern die Haltung, die ich spüre und die mich wachsen lässt. Das Gefühl, dass er genau das möglich machen möchte: dass ich mit Hilfe seines Feedbacks wachsen kann.

 

Mitunter wachsen Menschen nicht so, wie ich es mir vorstelle. Unser Sohn wird immer besser im Minecraft-Spielen. Seinen Mannschaftssport hat er aber kürzlich aufgegeben. Dabei ist Mannschaftssport doch so gut für einen Jungen in seinem Alter – denkt seine Mutter. So kompliziert die Systemtheorie ist, hier wird sie sehr konkret: Ich weiß nicht, was er denkt und was in seinem Kopf passiert, und ich kann es nicht machen. Ich kann es nur bedingt beeinflussen. Ich versuche dazu beizutragen, dass er wachsen kann, sich entfalten kann, seine Möglichkeiten entdeckt und nutzt. Ich möchte, dass er sich gesehen fühlt mit all dem, was er ist, will und kann und werden könnte – und mit dem, was er nicht will, auch.

 

Ich stelle mir vor, dass Gott alle möglichen Potenziale in uns anlegt. Dabei bin ich im Übrigen davon überzeugt, dass Gott dabei nicht wesenhaft zwischen Frauen und Männern unterscheidet. Und dann schaut Gott uns an und sagt: „Werde, was Du sein kannst. Mach dich nicht klein. Entfalte dich. Und lass andere rund um dich herum wachsen und werden, was sie sein können.“

 

Auch die Kirche hat das Potenzial zu wachsen. Ein merkwürdiger Satz angesichts der aktuellen Entwicklungen. Die Kirche verliert Vertrauen und Glaubwürdigkeit, Mitglieder, Personal, Geld, Gebäude, Relevanz. Sie erlebt einen historischen Schrumpfungsprozess. Aber sie hätte eine Chance zu wachsen und an innerer Größe zu gewinnen. Nehmen wir einmal an, Gott sagt zur katholischen Kirche: „Werde, was Du sein kannst. Mach dich nicht klein. Entfalte dich. Und lass andere rund um dich herum wachsen und werden, was sie sein können.“ Dann geht es nach meinen Erfahrungen zentral um Haltung und Verhalten: Ist die Kirche ein Ort, an dem ich Zuneigung spüre? Fühle ich mich von denen, die sagen, dass sie Kirche sind, (an)gesehen? Und: Entfaltet die Kirche ihr Potenzial? Entwickelt sie sich? Wächst sie heraus aus Verhaltensweisen, die Wachstum behindern oder gar Leid befördern? Ist Kirche ein Ort, an dem Menschen sein wollen und wachsen können und Gottes Zuneigung spüren?

 

Im Eingangsbereich der Augustinerkirche in Würzburg wird man empfangen mit der Aussage: „Ich will, dass du bist.“ Das ist grundlegend: Du bist gewollt und willkommen. Ein bekannter Satz von Augustinus ergänzt diese Aussage: „Unter deinen Augen bin ich mir selbst zum Rätsel geworden.“ Sehen und gesehen werden macht es möglich, dass Menschen wachsen, sich hinterfragen und ihre Potenziale entfalten. Es ist gut, dass es Menschen gibt, von denen man lernen kann, andere wachsen zu lassen.

 

Dr. Andrea Qualbrink I Bistum Essen
Bild: Jasmin Breidenbach

Dr. Andrea Qualbrink arbeitet im Stabsbereich Strategie und Entwicklung im Bistum Essen. Sie ist Pastoraltheologin und systemische Organisationsentwicklerin, promovierte über Frauen in kirchlichen Leitungspositionen und lebt mit Mann und Kind in Münster.