Idlib, dem Coronavirus ausgeliefert
30. März 2020Noch ist der neue Feind im Norden Syriens nicht angekommen. Zumindest nicht offiziell. Doch die Befürchtung, dass COVID-19 auch die Region Idlib erreichen wird, wird von Tag zu Tag größer. Das Virus ist bereits im Land. "Nur" fünf Infizierte soll es geben, mehr will das Gesundheitsministerium des Assad-Regimes nicht bestätigen.
Erst seit wenigen Wochen müssen die Menschen den Bombenhagel des syrischen Regimes und seines Verbündeten Russland nicht fürchten - zumindest vorerst müssen sie das nicht, denn es herrscht Waffenruhe. Über eine Million Menschen sind aus der Provinz seit Beginn der Militäroffensive im Dezember 2019 vor den Bombardements geflohen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Sie haben ihre Häuser und ihre Dörfer verlassen. Sie alle sind Vertriebene im eigenen Land, manche bereits zum zweiten, dritten oder vierten Mal auf der Flucht, leben unter schwierigsten Bedingungen in provisorischen Lagern.
Dort teilen sich nicht selten zehn Personen ein paar wenige Quadratmeter in einem Zelt. Schlafen, essen, leben dicht an dicht. "Wie soll ich diesen Menschen sagen, dass sie Abstand halten sollen?", fragt Huda Khayti, Leiterin des Frauenzentrums in der Stadt Idlib. Sie leitet eine Aufklärungskampagne zum Thema COVID-19. "Diese Menschen haben kaum Zugang zu sauberem Wasser, es gibt nur wenige Toiletten für viel zu viele Menschen, keine Masken, keine Handschuhe."
Kaum Wasser, keine Seife
Hände waschen und physische Distanz halten sind in den überfüllten Lagern einfach nicht möglich. An Quarantäne ist nicht zu denken. Manche können sich und ihre Kinder tagelang nicht duschen, stündliches Händewaschen illusorisch. Und wie es um ihre Abwehrkräfte steht, kann man nur erahnen.
Es wäre nicht nur eine Herausforderung, wenn das Coronavirus Idlib erreicht, nein, es wäre eine Katastrophe. Ein Ausbruch wäre "verheerend" für die tausenden Menschen, deren Gesundheitszustand schon jetzt durch Nahrungs- und Wassermangel sowie die Kälte geschwächt sei, sagte die Sprecherin des International Rescue Committee, Misty Buswell.
Denn während bereits viele Länder mit funktionierenden Gesundheitssystemen völlig überfordert sind, ihre erkrankten Bürger zu versorgen, werden die Menschen im Kriegsgebiet Idlib mit ihrem schwachen Gesundheitssystem besonders betroffen sein.
Manche Ärzte in Idlib gehen sogar davon aus, dass das Virus bereits getötet hat. Sie wissen es nur nicht sicher. Denn erst in diesen Tagen kann die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rund 300 Testkits nach Idlib bringen. Derzeit werden Hilfslieferungen mit medizinischem Material über die Türkei nach Idlib transportiert. Die WHO schult nach Angaben ihres Sprechers bereits medizinisches Personal und bereitet Labore in Idlib und Ankara vor, um Coronavirus-Tests vornehmen zu können. "Wir haben eine sehr schlechte medizinische Versorgung", sagt Huda Khayti. Die Sorge in ihrer Stimme ist zu hören. Sich vor einem unsichtbaren Feind zu schützen, übersteigt die Möglichkeit vieler Menschen.
150 Intensivbetten für 3,5 Millionen Menschen
85 Krankenhäuser wurden alleine in 2019 bei der Militäroffensive in der Region zerstört. Gezielt. Daher versorgen nur noch drei Krankenhäuser insgesamt über 3,5 Millionen Menschen, ein einziges sei aber nur komplett funktionsfähig, sagt Till Küster, Syrien-Koordinator der Organisation Medico International. Nach Angaben der WHO sollen lediglich knapp 150 Intensivbetten zur Verfügung stehen, etwa nochmal so viele Beatmungsgeräte. Küster sagt, Kranke müssten eigentlich schon lange zur Behandlung in die Türkei gebracht werden. Auch vor der Corona-Zeit.
Medico International unterstützt Huda Khaytis Frauenzentrum in Idlib. Die Leiterin selbst war im Frühjahr 2018 allein nach Idlib gekommen. Damals wurden demokratische Oppositionelle und Rebellengruppen gleichermaßen in die Provinz gebracht, die von der islamistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Scham (HTS) kontrolliert wird - weit weg vom Assad-Regime. Doch dieser will die Kontrolle über die letzte übrig gebliebene Anti-Regime-Hochburg zurückgewinnen, mit allen Mitteln.
Aufklärungs-Workshops zum Thema Corona
Seither geben Huda Khayti und ihr Team Workshops für Frauen zu rechtlichen Fragen, aber auch zu vielen anderen Themen. Doch die stehen derzeit hinten an. Denn seit einigen Tagen steht das Thema Corona-Aufklärung an oberster Stelle. "Wir erklären den Frauen in Workshops, welche Symptome bei Corona-Infizierten typisch sind. Wir klären sie über die nötige Hygiene auf, darüber Abstand zu halten. Aber wir zeigen auch wie sie Masken selbst machen können." Geld, um Masken zu kaufen haben die Wenigsten, und es ist auch gar nicht ausreichend Material vorhanden.
Die Frauen in Huda Khaytis Workshop seien besorgt, sagt sie. Sie stellten viele Fragen, wollten Tipps, wie sie die Kinder im Haus beschäftigen könnten, damit sie nicht draußen spielten und sich möglicherweise ansteckten. "Wir wollen, das Bewusstsein dafür schaffen, dass die Menschen so gut es geht, mit den wenigen Mitteln, die sie haben, aufpassen." Noch seien viel zu viele Menschen in der Stadt unterwegs.
Hygienebeutel für die umliegenden Lager
Als nächstes plant Khayti mit Unterstützung von Medico International, in den umliegenden Flüchtlingslagern kleine Hygienebeutel mit Seife, Handschuhen und Desinfektionsmittel zu verteilen. Ein Tropfen auf den heißen Stein, aber besser als nichts. "Wir wollen die Menschen aufklären, es gibt noch viele, die sich mit dem Thema gar nicht auseinandergesetzt haben. Ich weiß nicht, ob sie eine mögliche Erkrankung an COVID-19 überstehen", sagt sie.
Ein Waffenstillstand würde den Menschen zumindest die Sorge nehmen, bald wieder bombardiert zu werden. Denn es kann jederzeit wieder los gehen. Syriens Machthaber Assad hat bereits zu verstehen gegeben, dass er um die Region Idlib mit allen Mitteln weiterkämpfen wird. Das weiß auch Huda Khayti. "Wir tun was wir können, mit den Mitteln, die wir haben, um die Menschen vorzubereiten", sagt sie. Denn wenn erstmals offiziell das Virus die Menschen in Idlib erfasst, dann seien sie alle ausgeliefert. "Dann müssen wir uns dem hingeben und womöglich auch das Frauenzentrum schließen."