"Wir greifen nach jedem Strohhalm"
19. September 2018Abdulmajid Al-Halabi sieht seine Schwester Fatima nur in WhatsApp-Videos. Das Internet hat ausnahmsweise mal wieder funktioniert. Ihre Kinder drängen sich um sie. Sie sitzen auf dem Boden. Fatima wirkt erschöpft. "Es gab hier wieder Luftangriffe. Der Kleine hat was abbekommen. Kannst du das sehen?", fragt sie ihren Bruder. "Gott sei Dank ist nichts Schlimmeres geschehen".
Das Video ist ein paar Tage alt. Fatima lebt in einem Dorf bei Idlib, ihr Bruder Abdulmajid in der Kleinstadt Reyhanli, auf der türkischen Seite der Grenze. Vor sechs Jahren floh er hierher. Seine Schwester blieb damals zurück. "Ihr Haus wurde bei einem Angriff zerstört und sie floh mit ihren Kindern ins Dorf unserer Eltern. Aber auch das wurde später bombardiert", sagt Abdulmajid. "Fatima hat einfach nicht geglaubt, dass der Krieg so lange dauern würde."
Angst um die Verwandten
Abdulmajid lebt mit seiner Frau Dohok und fünf Kindern in einer illegalen, aber von den türkischen Behörden geduldeten Zeltsiedlung. Sie teilen sich einen Raum. "Wir leben hier, weil es unsere einzige Möglichkeit ist", sagt er und klopft gegen die löchrige Zeltplane. "Sie sollten das mal im Winter sehen. Dann ist der Boden draußen schlammig und es ist eiskalt. Das ist wirklich ein hartes Leben."
Doch er und seine Familie sind zumindest in Sicherheit. Nach sieben Jahren Krieg hatten sich die syrischen Regierungstruppen und ihre russischen Verbündeten zuletzt auf die wohl entscheidende Schlacht vorbereitet: die Einnahme von Idlib. Die Provinz im Nordwesten Syriens ist der letzte große Rückzugsort der Rebellen. Inzwischen leben dort drei bis vier Millionen Zivilisten, genau weiß das niemand. Etwa die Hälfte sind Vertriebene aus anderen Teilen Syriens. Für sie ist Idlib die letzte Hoffnung - von hier aus geht es nicht weiter.
Flüchtlingskrise hinter der Grenze
Denn die Türkei hat vor drei Jahren ihre Grenze zu Syrien geschlossen und eine insgesamt 800 Kilometer lange Betonmauer gebaut, um "Terroristen und Schmuggler zu stoppen", wie es heißt. Seitdem dürfen offiziell keine neuen Flüchtlinge mehr ins Land. Mehr als 3,5 Millionen Geflüchtete leben bereits in der Türkei. "Wir sind schon längst über unsere Möglichkeiten hinausgegangen", warnte erst kürzlich der türkische Präsident Erdogan.
Was diese Grenzschließung bedeutet, kann man von den Hügeln um Reyhanli aus gut beobachten: Kurz hinter der türkischen Mauer, auf der syrischen Seite, stehen Zelte dicht an dicht - Vertriebenenlager so weit das Auge reicht. Türkische Hilfsorganisationen versorgen die Menschen dort. Die Not wird immer größer, denn tausende weitere Flüchtlinge hatten aus Angst vor der drohenden Militäroffensive Schutz in der Nähe der türkischen Grenze gesucht. Mehr als 700.000 Menschen, sagen Helfer, sollen dort inzwischen ausharren.
Humanitäre Hilfe aufgestockt
Auch Kadir Akgündüz und sein Team vom türkischen Roten Halbmond haben ihre Hilfslieferungen für Idlib in den vergangenen Wochen aufgestockt. Tausende Kisten voller Lebensmittel, Hygieneartikel, Kinderspielzeug, auch Schuhe und Kleidung bringen sie mehrmals pro Woche nach Syrien. "Insgesamt gibt es allein in der Provinz Idlib 400 Flüchtlingscamps", sagt Akgündüz, der für seine Organisation humanitäre Einsätze in Syrien koordiniert. ”Die Menschen dort haben alles verloren, ihr Zuhause, ihren gesamten Besitz. Für sie geht es ums Überleben". Dazu kommen die seelischen Wunden - und die Ängste. "Dieser Krieg dauert jetzt schon sieben Jahre. Das hat viele Menschen psychisch kaputt gemacht. Sie sind müde, sie können nicht mehr. Jederzeit kann eine Bombe einschlagen, sie müssen ständig um ihr Leben fürchten. Und niemand weiß, was als nächstes passiert, wie es weitergeht."
Die jüngste Einigung zwischen dem türkischen Präsidenten Erdogan und seinem russischen Kollegen Putin wertet Akgündüz als Erfolg. Die beiden Staatschefs hatten sich Anfang der Woche darauf verständigt, bis zum 15. Oktober rund um die Region Idlib eine entmilitarisierte Zone einzurichten, die 15 bis 20 Kilometer breit sein und an der Frontlinie zwischen den Gebieten der Rebellen und der syrischen Armee verlaufen soll. Die Zone soll von türkischen Soldaten und russischen Militärpolizisten überwacht werden. "Es ist wichtig, dass die Waffen schweigen, dass sich die Sicherheitslage verbessert. Das würde uns die Arbeit sehr erleichtern", sagt Akgündüz.
Blutbad verhindert?
In Putins und Erdogans Vereinbarung ist auch der "Abzug der Extremisten, insbesondere der Al-Nusra-Front" vorgesehen, die inzwischen als Dschihadistengruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) firmiert. Wie genau dieser Abzug aussehen soll und ob sich die Kämpfer darauf einlassen, ist unklar. Noch lässt der Deal für die letzte große Rebellenhochburg in Syrien viele Fragen offen und auch zu seiner Umsetzung ist kaum etwas bekannt. Der türkische Staatschef feiert das Abkommen trotzdem als diplomatischen Sieg. "Es ist uns gelungen, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern", sagte Erdogan nach seinem Treffen mit Putin.Im Zeltlager, bei Abdulmajid und den anderen, gilt er deshalb als Held. "Das ist natürlich nicht das Ende des Konflikts. Aber wenn du am Ertrinken bist, greifst du nach jedem Strohhalm", sagt er. "Zumindest hört jetzt das Morden auf - hoffe ich." Wie auch immer es in Idlib weitergeht - Abdulmajid wünscht sich, dass er seine Schwester Fatima wiedersieht. Irgendwann. In Freiheit. Und nicht nur auf seinem Handy.