Idlib: Sorge vor humanitärer Katastrophe
10. September 2018Vorletzte Chance Teheran, letzte nun vermutlich Genf. Die Schweizer Stadt ist am Montag einmal mehr Treffpunkt internationaler Diplomaten, die ein Blutvergießen in Syrien zu verhindern versuchen - dieses Mal jenes, das in Idlib droht. Am vergangenen Freitag hatten sich die in der iranischen Hauptstadt versammelten Unterhändler nicht auf eine politische Lösung der Krise um die Provinz im Westen Syriens einigen können. Russland und der Iran zeigten sich entschlossen, die Stadt mit Gewalt der Herrschaft der überwiegend dschihadistischen Rebellen zu entreißen. Nun soll es ein Treffen unter Leitung des UN-Sonderbeauftragten für Syrien, Staffan de Mistura, richten. Er soll versuchen, Assad und seine Schutzmächte Iran und Russland dazu zu bewegen, die Krise auf friedlichem Weg zu lösen.
Sollte dies misslingen, müsse man mit dem Schlimmsten rechnen, warnte UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock. "Es muss Wege geben, mit diesem Problem umzugehen, das sich in den nächsten Monaten in die schlimmste humanitäre Katastrophe mit dem größten Verlust an Menschenleben im 21. Jahrhundert verwandeln könnte", sagte Lowcock in Genf.
Fassbomben, Artillerie und Raketen
Was passiert, wenn dies misslingt, war in den vergangenen Wochen zu beobachten. Seit Anfang August attackieren die syrische und die russische Luftwaffe die Provinz Idlib und die bis zu drei Millionen Menschen, die sich dort aufhalten. Die Angriffe verstärkten sich am Wochenende noch einmal. Nach Angaben der den Rebellen nahestehenden Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte bombardierten Flugzeuge beider Länder den Süden der Provinz sowie Teile der angrenzenden Provinz Hama über 150 Mal. Die syrische Luftwaffe soll dabei Fässer mit Sprengstoff abgeworfen haben, außerdem setzte sie Artillerie und Raketen ein.
Seit Monaten bereiten sich humanitäre Organisationen darauf vor, zumindest das größte Leid zu mindern. "In der Region halten sich rund drei Millionen Menschen auf", sagt Anica Heinlein, Advocacy-Referentin bei CARE Deutschland. "Was die Lage noch sehr viel brisanter macht, ist der Umstand, dass fast die Hälfte von diesen Menschen aus bereits intern Vertriebenen besteht."
Zwar hätten einige Menschen die Stadt in den letzten Tagen verlassen. "Aber das ist sehr schwierig - und es gibt zudem auch kaum andere Orte, an die man fliehen kann."
Zivilisten als Geiseln
Nach Schätzungen Staffan de Misuras halten sich allein rund 10.000 Kämpfer der Nusrah-Front in Idlib auf, hinzu kämen tausende weiterer dschihadistischer Kämpfer. Medienberichten zufolge beherrschen sie zusammen rund 60 Prozent der gesamten Region.
Vieles deutet darauf hin, dass diese Gruppen die eingeschlossenen Zivilisten als Geiseln halten. So berichtet die "Washington Post", Milizen der Dschihadisten-Organisation Tahrir al-Sham hätten an verschiedenen Orten der Region Galgen errichtet - mögliche "Verräter" sollen dort öffentlich hingerichtet werden. Nach Angaben der Zeitung unterhielten die Dschihadisten ebenfalls mehrere Haftzentren in der Region. Von mindestens fünf dieser Gefängnisse heiße es, dass dort auch gefoltert würde, so die "Post".
Nach einem Bericht des Internet-Magazins "Al-Monitor" nehmen die dschihadistischen Gruppen Opferzahlen unter den Zivilisten bedenkenlos in Kauf. Mehr noch: "Je blutiger die Angriffe verlaufen, desto besser", resümiert das Magazin das Kalkül der Dschihadisten. "Denn das lässt aus ihrer Sicht den Druck auf Syrien und Russland wachsen, die Kämpfe zu beenden und den Dschihadisten die Enklave zu überlassen."
Derzeit halten internationale Hilfsorganisationen weiterhin den Kontakt zu den eingeschlossenen Zivilisten. "Noch sind wir mit lokalen Partnern aktiv", sagt Anica Heinlein von CARE im Gespräch mit der DW. "Allerdings haben die Luftangriffe der letzten Tage die Hilfe extrem erschwert. Denn die Sicherheit unserer Helfer geht natürlich vor. Werden Luftangriffe geflogen, müssen sich auch unsere Helfer in Sicherheit bringen." Lebensmittel, Medikamente, Zelte - das bräuchten die Menschen am nötigsten, so Heinlein. "Derzeit kommt der Großteil der Hilfe aus der Türkei. Davon versuchen wir so viel wie möglich vor Ort zu bringen."
Luftangriffe fördern mögliche Radikalisierung
Die syrische Regierung hatte den Unterhändlern für ihre Bemühungen eine Frist bis zum 10. September, dem heutigen Montag, gesetzt. Würden die Diplomaten sich bis dahin nicht auf eine politische Lösung einigen, würde der Angriff auf Idlib endgültig beginnen. Die Chancen, diesen zu verhindern, sind nach Auffassung der Zeitung "Sharq al-Awsat" vergleichsweise gering: Alle beteiligten Akteure hätten Interessen in Syrien. "Und die werden sie entschlossen vertreten." Russland wolle seine Positionen ebenso behalten wie die USA und der Iran. "All dies dürfte die Verhandlungen sehr schwierig machen."
Ähnlich sieht es auch der Kommentator der Zeitung "Al Hayat". Zwar sei der Kampf um Idlib die letzte große Schlacht des syrischen Bürgerkriegs. In Teilen würde sich die Lage danach beruhigen. So dürften die dschihadistischen Gruppen dann so sehr geschwächt sein, dass zumindest kurzfristig keine Gefahr mehr von ihnen ausgehe. Allerdings müsse man damit rechnen, dass Teile der Zivilbevölkerung sich durch die Brutalität der Angriffe des Regimes zu den Dschihadisten hingezogen fühlen oder gar deren Reihen beitreten könnten. Zudem müsse man mit Rache-Aktionen des Assad-Regimes rechnen. "Die aber könnten den internationalen Akteuren dann gleichgültig sein. Sie dürften froh sein, den syrischen Sumpf hinter sich zu lassen."
Hoffnung noch nicht aufgegeben
Noch bemühen sich Diplomaten um eine politische Lösung des Konflikts. Auch die Hilfsorganisationen appellieren an die Verantwortlichen, ein Blutbad zu vermeiden. "Wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich eine Großoffensive vermeiden lässt", sagt Anica Heinlein. "Sie zu vermeiden, ist unser erster und größter Appell."
Bislang zeigt sich die Assad-Regierung unbeeindruckt. Auch am Montag flog die Luftwaffe des Regimes Angriffe auf verschiedene Ortschaften der Provinz.