Aslı Erdoğan erhält den Remarque-Friedenspreis
22. September 2017"Ich habe mich immer für die Opfer eingesetzt und war deren Stimme, bis ich selbst zum Opfer wurde", sagte Erdoğan in ihrer Dankesrede im Friedenssaal des Rathauses. Sie habe sich noch immer nicht von den Schmerzen und Demütigungen erholt. Bis zuletzt stand auf Messers Schneide, ob Erdoğan überhaupt an dem Festakt im Friedenssaal des Osnabrücker Rathauses würde teilnehmen können. Zwar war die Schriftstellerin nach viermonatiger Untersuchungshaft seit Dezember wieder frei, doch hatten die türkischen Behörden ihren Reisepass eingezogen. Der Autorin, die zuletzt für die prokurdische Zeitung "Özgür ündem" arbeitete, wird in ihrer Heimat "Terrorpropaganda" vorgeworfen.
In seiner Laudatio äußerte Alexander Skipis vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels seine Hochachtung vor den Leistungen der 50-jährigen Journalistin und Schriftstellerin. Trotz ihrer 132-tägigen Inhaftierung und ständiger Drangsalierungen erhebe sie weiter ihre Stimme für die Unterdrückten. "Ich verneige mich vor deinem Mut und deinem Engagement für die Freiheit und den Frieden", sagte der Hauptgeschäftsführer des Vereins, der 2016 eine Mahnwache vor dem Gefängnis organisiert hatte, in dem Erdogan inhaftiert war.
"Überglücklich" und "sehr dankbar", war die 50-Jährige am Vortag in Osnabrück vor die Journalisten getreten. Müde und erschöpft wirkte sie nach all den Strapazen, aber auch wütend: "In der Türkei sind weiterhin mehr als 180 Autoren inhaftiert", rechnete sie vor, "viele andere dürfen das Land nicht verlassen!"
Der Prozess ist noch nicht zu Ende
Den 14. Erich Maria Remarque-Friedenspreis erhält Aslı Erdoğan für ihr journalistisches und schriftstellerisches Wirken, mit dem sie die Auswirkungen der politischen Verhältnisse in der Türkei auf die Menschen und ihren Alltag beschrieb. "Asli Erdogan verkörpert herausragend den Einsatz für die Unantastbarkeit freier Presseberichterstattung sowie die Notwendigkeit unzensierter Veröffentlichung von Informationen und Meinungen", betonte Jurypräsident Wolfgang Lücke. Die Jury hatte besonders auf Erdoğans aktuell im Knaus-Verlag erschienene Essaysammlung "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch" verwiesen. In der Türkei kann das Buch derzeit nicht erscheinen.
Vorwurf Terrorpropaganda
Auch Bundesaußenminister Sigmar Gabriel äußerte sich erfreut darüber, dass die Autorin persönlich zur Preisverleihung nach Osnabrück reisen konnte. "Frau Erdogan ist eine mutige und wache Stimme, die uns immer wieder aufs Neue beweist, wie wichtig es ist, auch gegen große Widerstände für seine Gedanken und Überzeugungen einzustehen", erklärte Gabriel in Berlin.
Der Leidensweg der türkischen Schriftstellerin hatte im August 2016 begonnen, als Polizisten sie und andere Journalisten nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei festnahmen. Der Vorwurf: Terrorpropaganda. Vier Monate später kam Erdoğan unter Auflagen frei. Doch behielten die Behörden ihren Reisepass ein. "Ich habe der Türkei einen Spiegel vorgehalten. Da ihr nicht gefallen hatte, was sie gesehen hat, blieb mir nichts erspart", so Erdoğan erst kürzlich in einem DW-Interview. "Statt sich zu entschuldigen, sucht man Wege, wie man den Druck erhöhen, mich zum Schweigen bringen, mich foltern kann. Ich bin keine politische Figur. Ich bin Schriftstellerin. Was habe ich diesem Land angetan?"
"Was habe ich diesem Land angetan?"
Die studierte Physikerin Erdoğan schrieb schon als Kind Gedichte und Kurzgeschichten. Von 1991 bis 1993 arbeitete sie am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf. Von 1994 bis 1996 lebte sie in Brasilien, da sie sich in der Türkei bedroht fühlte. Ihr erster Roman "Der wundersame Mandarin" erschien 1996. Mit ihrem dritten Roman "Die Stadt mit der roten Pelerine", der auch ins Deutsche übersetzt wurde, gelang ihr der literarische Durchbruch. Seither schrieb sie Kolumnen zunächst für die linksliberale Tageszeitung "Radikal", später für die prokurdische Zeitung "Özgür Gündem". Erdoğan ist Mitglied in der Schriftstellervereinigung PEN und war als "writer in residence" wiederholt in Zürich. Für ihre Freilassung hatten sich neben dem PEN auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels eingesetzt.
Sonderpreis für "Pulse of Europe"
Aktuell sitzen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen 160 türkische Journalisten und Schriftsteller hinter Gittern, andere sind vor der Verfolgung geflüchtet, darunter auch Can Dündar, früherer Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhurriyet". Die willkürliche Inhaftierung des "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel hat die Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei zuletzt verschärft.
Mit ihrem Friedenspreis, den sie seit 1991 alle zwei Jahre vergibt, erinnert die Stadt Osnabrück an den deutschen Schriftsteller Erich-Maria-Remarque, einen Sohn der Stadt. Aus seiner Feder stammt unter anderem der weltbekannte Antikriegsroman "Im Westen nichts Neues". Den mit 5.000 Euro dotieren Sonderpreis erhält in diesem Jahr der Verein "Pulse of Europe", und zwar, wie die Jury fand, für sein Eintreten für ein Europa, "in dem die Achtung der Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit, freiheitliches Denken und Handeln, Toleranz und Respekt selbstverständliche Grundlage des Gemeinwesens sind."
sd/pj (afp, epd, dpa, KNA, Stadt Osnabrück, PEN, Börsenverein des Deutschen Buchhandels)