Ilkay Gündogan's wundersame Wandlung zum Torjäger
24. Februar 2021Sein Passspiel, der Weitblick, die Fähigkeit zur Antizipation, eine Portion Gelassenheit und seine außergewöhnliche Spielintelligenz zeichneten Ilkay Gündogan über weite Strecken seiner mittlerweile zwölf Jahre andauernden Karriere aus. Gündogan und das gegnerische Tor jedoch pflegten ein eher distanziertes Verhältnis. Wenn die Kollegen in Nürnberg und später bei Borussia Dortmund und Manchester City vorne trafen, war Gündogan meist ein bis zwei Reihen hinter dem Geschehen und hatte seine (Vor-) Arbeit längst erledigt - Ausnahmen, wie sein Elfmeter-Tor im Champions-League-Finale 2013 gegen den FC Bayern, natürlich nicht ausgeschlossen.
Torjäger auf dem zweiten Bildungsweg
Doch in einer Karrierephase, in der sich die meisten Spieler auf ihrer Position eingerichtet haben, erlebt Gündogan eine plötzliche und unerwartete Neuerfindung: Der Mittelfeldspieler hat sich zum (verkappten) Torjäger entwickelt. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Gündogan zieht mehr als früher mit ins letzte Drittel, stößt oft als eine zweite Angriffswelle in den gegnerischen Strafraum, ist deutlich stärker im Abschluss geworden und handelt schlicht eigensinniger als früher - als das Querlegen des Balles selbst in aussichtsreicher Position für ihn noch zu den guten Manieren gehörte.
Mit neun Premier-League-Toren in 2021 ist er neben Lionel Messi der erfolgreichste Torschütze in den europäischen Top-Ligen in diesem Jahr. Zum Vergleich: Für seine insgesamt zehn Treffer in Dortmund benötigte der damalige Stratege ganze 105 Spiele und fünf Jahre. "Ich spiele eine andere Rolle, offensiver und versuche, nah an den gegnerischen Kasten zu kommen", sagt der deutsche Nationalspieler über seine Wandlung. "Das ist gefährlicher und führt zu mehr Toren. Aber nur weil ich mehr Tore schieße, heißt das nicht, dass ich besser spiele."
Meistermacher und Spieler der Saison?
Das wird in England allerdings anders beurteilt, denn die Anerkennung für Gündogan ist seit seinem Tor-Lauf bei den "Skyblues" merklich gestiegen. Die Tatsache, dass im Belgier Kevin De Bruyne der etatmäßige Offensiv-Chef von Trainer Pep Guardiola seit längerem ausfällt, spielt Gündogan dabei in die Karten. Denn die Lücke, die De Bruyne hinterlässt, schließt der 30-Jährige momentan fast nahtlos.
"Gündogan kann der Mann sein, der Manchester City zum Titel führt", sagte zuletzt Jamie Carragher, der lange in Diensten des noch amtierenden Meisters Liverpool stand, beim Sender "Sky Sports". Damit stimmte Carragher ein Loblied auf den Deutschen an: "Was für eine Saison, die er spielt. Ich denke, er wird Spieler des Jahres. Er ist eine Offenbarung, es ist eine Freude, ihm zuzusehen."
Schwieriger Start in Manchester
Doch so perfekt wie aktuell lief es für Gündogan in Manchester längst nicht immer. 2016 war der heute 42-fache Nationalspieler der erste Transfer, den Pep Guardiola nach seinem Wechsel vom FC Bayern nach Manchester unter Dach und Fach brachte - das Bundesliga-Mitbringsel des Katalanen. Doch eine lange Verletzungsphase warf Gündogan in seiner Anfangsphase in Manchester weit zurück.
Fortan war die Rolle Gündogans die eines Teamplayers, an dessen Seite Talente herangeführt werden konnten und dessen Einsatzzeiten eher unbeständig waren. Siege und Trophäen gab es genügend, Schlagzeilen und Extra-Lob eher selten. Doch auch ohne öffentliche Liebesbekundungen konnte Gündogan sich Guardiolas Wertschätzung stets sicher sein.
"Wie eine falsche Neun"
"Ich habe oft gesagt, dass er als Stürmer spielen kann, wie eine falsche Neun, und die Leute haben gelacht", sagte Guardiola nach dem 3:1-Sieg von "City" gegen die Tottenham Hotspur, bei dem Gündogan einen Doppelpack erzielte."Jetzt spielt er in der Nähe des Stürmers und er hat ein unglaubliches Gespür für die Bewegungen zum Kasten. Und dann ist da noch der Abschluss. Wenn einer so schießt, wie er es beim zweiten Tor getan hat, kann man das Tor nicht verhindern", sagte Guardiola.
Der Tor-Lauf des Deutschen beschränkt sich bislang auf die Premier League und soll im ersten Champions-League-Spiel 2021 gegen Borussia Mönchengladbach nahtlos weitergehen. Doch von vollmundigen Ankündigungen hält Gündogan nichts: "Ich habe sie in den letzten Monaten oft gesehen und sie haben eine großartige Mannschaft, einen tollen Kampfgeist und können an einem guten Tag jeden schlagen", sagte der 30-Jährige über den Achtelfinalgegner aus der Bundesliga.
Retter auch für Löw?
19 Siege in Folge, seit 26 Spielen ungeschlagen: Manchester City ist die momentan vielleicht stärkste Mannschaft Europas. Und jetzt kommt auch noch Kevin De Bruyne zurück. Gündogans Rolle dürfte neben Guardiola noch einen anderen Trainer sehr begeistern: Bundestrainer Jochim Löw. Denn in einer Zeit, in der Hoffnungsträger Kai Havertz in seinem ersten Jahr bei Chelsea zu kämpfen hat, Leon Goretzka, Joshua Kimmich zuletzt krank, bzw. verletzt ausfielen und Toni Kroos auch nicht in der Form seines Lebens ist, könnte Gündogan für Löw der Retter werden.
Löw hatte auch damals große Stücke auf den Spielmacher Gündogan gehalten, der sich dann aber knapp ein Jahr vor WM 2014 im Testspiel gegen Paraguay verletzte und fortan im Nationalteam keine tragende Rolle mehr spielte. Doch Gündogan in neuer Rolle bei Manchester City kann möglicherweise diese Rolle auch im DFB-Team ausfüllen. Ein oder mehrere Tore in der Champions League gegen Gladbach würden ihm dabei sicher nicht schaden.
Adaption: David Vorholt