Einzelhändler fürchten um ihre Existenz
4. Dezember 2020In den Hackeschen Höfen in Berlin-Mitte ist es fast unwirklich still. In normalen Zeiten sind die denkmalgeschützten Gebäude, die sich versetzt um acht Höfe gruppieren, einer der großen Anziehungspunkte der Stadt. Restaurants, Cafés, ein Theater, ein Programmkino und viele kleine Läden, in denen Mode, Kunsthandwerk und Schmuck verkauft werden, machen hier zu allen Jahreszeiten gute Geschäfte. Es ist die Mischung aus Einkaufen, Essen gehen und flanieren, die bei Berlinern und Touristen gut ankommt.
In der Corona-Pandemie ist alles anders. Die Gastronomie, das Theater und das Kino sind wegen des Teil-Lockdowns geschlossen. Zudem bleiben viele Menschen aus Angst vor einer Ansteckung zuhause. Die Läden dürfen zwar öffnen, tun das aber nur noch wenige Stunden am Tag, weil in den Höfen nichts mehr los ist.
Auch Andreas Müller sitzt allein in seinem Geschäft inmitten von Vitrinen. In denen sind handgefertigte luxuriöse Uhren der Marke Askania ausgestellt. Aber kein Kunde ist zu sehen. Die Askania-Uhrmacher, die normalerweise in der ersten Etage in der Manufaktur arbeiten, sind zuhause und beziehen Kurzarbeitergeld, eine staatliche Unterstützungsleistung.
Die Touristen fehlen
Askania hat zwei Ladengeschäfte in Berlin: Eins in den Hackeschen Höfen und eins auf dem Kurfürstendamm im Westen der Stadt. Da würden die Geschäfte auch nicht gut laufen, sagt Müller, aber in den Höfen noch viel schlechter. 90 Prozent seines Umsatzes macht er mit Touristen, die in den Laden kommen. Wegen der Pandemie bleiben die aus. "Es ist schlimm", sagt Müller.
Wenn er aus seinem Fenster blickt, sieht er auf ein geschlossenes Restaurant. Damit es nicht so trostlos aussieht, sind davor zwei große Sonnenschirme aufgespannt, an denen Lichterketten befestigt sind. Daneben leuchtet ein geschmückter Tannenbaum mit einem roten Stern auf der Spitze einsam vor sich hin.
"Wir versuchen, unsere Stammkunden über Mailinglisten anzusprechen und in den sozialen Medien für uns zu werben, aber das gelingt noch nicht so gut", sagt der Uhrmacher. Müller gibt offen zu, dass das Online-Geschäft bislang für ihn keine ernstzunehmende Option war. "Eine Uhr für 2000 Euro verkaufen sie nicht einfach so, da muss man mit seinen Kunden drüber sprechen, die muss man sehen und anfassen und die Geschichte dazu hören."
Einige haben schon aufgegeben
Doch der Corona-Winter hat erst begonnen und es wird absehbar noch Monate dauern, bis die Menschen auch das Viertel um die Hackeschen Höfe wieder bevölkern werden. Ob alle Geschäfte so lange durchhalten können? In der Oranienburger Straße, bekannt durch die große Synagoge mit der goldenen Kuppel, haben einige Läden schon dicht gemacht. In den Fenstern kleben noch die Schilder, die Kunden seit dem Beginn der Pandemie mahnen, Abstand zu halten.
Auch Anke Runge, die hinter der Synagoge in der Tucholskystraße ihre Taschenmanufaktur betreibt, blickt sorgenvoll in die Zukunft. Seit 23 Jahren verkauft die Designerin hier handgefertigte Taschen, Rücksäcke und Portemonnaies. Mit ihren farbenfrohen Kollektionen hat sich Runge einen Namen über die Stadt hinaus gemacht. Davon zeugen die eng beschriebenen Seiten eines rot eingebundenen Notizbuchs, in dem die zierliche Frau jeden Verkauf mit Datum und Preis handschriftlich festhält.
Tagelang kein Kunde im Geschäft
Das dicke, abgegriffene Buch mit seiner Abfolge von Jahren und Monaten ist eine Chronologie, die auf einen Blick offenbart, was die Corona-Pandemie für Runge bedeutet. Während im November 2019 auf mehreren Seiten insgesamt 44 Verkäufen verzeichnet sind, bei denen zum Teil auch zwei oder mehr Produkte über die Ladentheke gingen, füllen die Verkäufe im November 2020 nicht einmal eine Seite. "An manchen Tagen ist kein einziger Kunde ins Geschäft gekommen", erzählt Runge und zieht sich die Ärmel ihrer grauen Strickjacke über die Hände, als wenn sie frösteln würde.
Nur noch 4000 Euro hat sie derzeit auf ihrem Geschäftskonto. "Davon werden morgen schon wieder 3000 Euro für die Miete abgebucht", sagt sie. Auf die Frage, wie sie und ihr Sohn ihr Leben derzeit finanzieren würden, antwortet die 49-jährige lapidar: "Aus dem Dispo-Kredit." 14.000 Euro hat die Geschäftsfrau nach dem ersten Lockdown im Frühling, als alle Geschäfte schließen mussten, vom Bund und dem Land Berlin als Soforthilfe erhalten.
Arbeiten für die Miete
Ab Juni konnte sie zwar wieder öffnen, aber auch Runge fehlen die Kunden, die als Touristen in die Stadt kommen. Jetzt wird sie weitere Überbrückungshilfe beantragen müssen. "Das Geld kann ich direkt an meinen Vermieter weiterleiten", sagt Runge, die es wütend macht, dass die Lasten der Krise so einseitig verteilt seien, wie sie sagt. "Mein Vermieter hat das große Haus hier mit Ladengeschäften und Wohnungen und kassiert weiter seine Mieten, ohne irgendwelche Abschläge."
Mehrfach hat Runge versucht, die Mietzahlungen wegen der schlechten Geschäftslage herunter zu handeln. Doch ihr Vermieter blieb hart. "Im Frühjahr, als es wegen der Geschäftsschließungen gesetzlich erlaubt war, die Miete vorübergehend auszusetzen, hat er mich angerufen und gesagt, ich könne das machen, aber wir würden uns dann natürlich noch über Zinszahlungen unterhalten müssen."
Banger Blick auf das Weihnachtsgeschäft
Anke Runge liebt ihr Geschäft, in dem auf 100 Quadratmetern auch eine kleine Werkstatt untergebracht ist. In der Mitte steht ein Arbeitstisch, auf dem das Leder zugeschnitten wird, das sich in einem Regal in dicken Ballen stapelt. Über zwei Nähmaschinen sind zahllose Garnrollen ordentlich über und nebeneinander aufgereiht. "Ich mache das hier schon so lange und ich habe das Viertel mit seinen kleinen Läden und Restaurants praktisch mit aufgebaut. Trotzdem weiß ich nicht, wie es weitergehen soll."
Ein Gefühl, das in diesen Zeiten viele Inhaber von Ladengeschäften teilen. Nicht nur solche wie Runge. Auch in großen Geschäften in Hauptverkehrsstraßen oder selbst in Shoppingcentern geht die Angst um. "Die Aussichten für das Weihnachtsgeschäft sind in diesem Corona-Jahr vor allem für viele innerstädtische Händler und dort insbesondere die Modehäuser beunruhigend schlecht", sagt Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer beim Handelsverband Deutschland.
Was wird aus den Innenstädten?
Wer braucht schon Handtaschen oder die neueste Mode, wenn nicht gefeiert werden kann und man statt im Büro nur noch im Home-Office sitzt? Da reichen Jogginghosen, die sich tatsächlich besser verkaufen als je zuvor. In einer Umfrage des Handelsverbands sehen 45 Prozent der befragten Innenstadthändler ihre unternehmerische Existenz aufgrund der Corona-Pandemie akut bedroht. Genth macht sich große Sorgen um die Innenstädte. "Am Ende könnten ganze Stadtzentren verloren gehen."
November und Dezember sind für viele Händler normalerweise die umsatzstärksten Monate des Jahres. "Wenn diese Umsätze jetzt ausfallen, geraten viele Geschäfte in Schieflage", so Genth. Allerdings trifft es nicht alle Branchen gleich. Das Geschäft mit Haushaltswaren, Heimwerkerbedarf, Einrichtungsgegenständen und Lebensmitteln läuft gut bis sehr gut. Und auch der Online-Handel profitiert und wird seine Umsätze in der Vorweihnachtszeit im Vergleich zum Vorjahr wohl um ein Drittel steigern können.
Unsichere Aussichten
Auch Anke Runge hat über ihre Webseite ein paar Aufträge bekommen, die sie jetzt verschicken will. "Aber das ist nicht viel", sagt sie. "Meine Taschen sind zwar qualitativ besser als die von großen Marken, die auch noch viel teurer sind, aber ich habe nicht den Bekanntheitsgrad, den man haben muss, damit das Online-Geschäft gut läuft." In der Corona-Krise sei ihr aber klar geworden, dass es ein Fehler gewesen sei, das Online-Business nicht längst ausreichend aufgebaut zu haben, fügt Runge selbstkritisch hinzu.
Die Designerin denkt derzeit viel über ihre Zukunft nach. Das Geschäft mit den Taschen will sie auf keinen Fall aufgeben, aber um durchzuhalten braucht sie Geld, müsste also einen größeren Kredit aufnehmen. Welche finanziellen Belastungen würde das mit sich bringen? Ist das Risiko kalkulierbar? Niemand kann absehen, wie lange die Pandemie die Welt noch im Griff haben wird und wie es danach weitergeht.
Die beste Entscheidung kann am Ende falsch sein
"In dem Restaurant ein paar Häuser weiter hat die Inhaberin im Sommer einen Kredit aufgenommen, um ihr Lokal hygienetechnisch für den Corona-Winter aufzurüsten", erzählt Runge. Seit Anfang November ist das Restaurant wegen des Teil-Lockdowns nun geschlossen. "Wie die den Kredit zurückzahlen wollen, weiß ich nicht", sagt Runge und zieht die Schultern hoch. In diesem Moment wirkt die ansonsten so kämpferische Unternehmerin tatsächlich ein wenig mutlos.