Das Leid der Menschen in Idlib
24. Dezember 2019"Hallo Planet Erde, wir sind es, die Kinder von Idlib, Russland tötet uns gerade" - mit diesem eindringlichen Appell richtet sich die junge Syrerin Merna Alhasan über Twitter an die Welt. Alhasan lebt in Idlib Stadt und berichtet seit Wochen über den Kurznachrichtendienst über die Lage vor Ort. "Die Menschen aus der Region Idlib fliehen. Manche lassen alles was sie haben zurück und wollen einfach nur weg", sagt die junge Frau in einem Video. Mit ihrem Mobiltelefon sendet die junge Video-Journalistin Bilder aus Idlib, die die Welt selten zu sehen bekommt. Autos, die bis oben bepackt dicht an dicht stehen und die Region gen Norden verlassen wollen. Menschen, die gegen Assad und Russland demonstrieren.
Intensive Offensive
Vor einer Woche hat das syrische Regime mit Unterstützung der russischen Luftwaffe eine neue Offensive auf die Region Idlib gestartet. Idlib ist die letzte Bastion, die von Rebellen und Extremisten kontrolliert wird - und Syriens Machthaber Assad will auch diese Gegend unter seine Kontrolle bringen. Besonders die Gegenden um die Stadt Maarat al-Numan sind von den Angriffen betroffen. Die Stadt wurde nahezu menschenleer gebombt. Dort verläuft die wichtige Überlandstraße M5 - die sich von Damaskus über Aleppo bis zur türkischen Grenze zieht. Auf dieser Route versuchen die Menschen, in Richtung türkische Grenze zu fliehen. "Uns ist berichtet worden, dass viele Leute, die über die Autobahn Richtung Norden fliehen wollten, auch während ihrer Flucht noch einmal angegriffen wurden - zum einen durch Bomben, aber auch durch gezieltes Maschinengewehrfeuer von pro-Assad Milizen", sagt der Syrien-Koordinator Till Küster der Hilfsorganisation Medico International der DW.
Russlands Militär begründet die Offensive auf die Gegend von Maarat al-Numan damit, dass sich die dort ansässigen Extremisten geweigert hätten, die Region zu verlassen. In Maarat al-Numan hat das Bündnis Hayat Tahrir al-Scham das Sagen. Es ist aus dem syrischen Ableger der Al-Kaida hervorgegangen. Die umliegenden Gebiete kontrollieren von der Türkei gestützte Rebellen. "Die Türkei könnte das Blutvergießen vielleicht stoppen", schreibt Merna Alhasan in einem Tweet. Doch sie käme ihrer Aufgabe als Schutzmacht der Menschen in Idlib nicht nach. Dabei fürchtet die Türkei das Blutbad eines so großen syrisch-russischen Angriffs, denn dies würde einen neuen Zustrom an Flüchtlingen bedeuten. Erdogan warnte Europa auch bereits davor - zur Hilfe eilt die Türkei den Menschen in Idlib aber dennoch nicht. Die Grenze im Norden sei derzeit dicht, sagt Küster von Medico International. Die Menschen wissen daher nicht, wohin sie fliehen können. Die Lage sei prekär, sagt Dirk Hegmanns, Regionalleiter der Welthungerhilfe mit Sitz im türkischen Gaziantep. "Die Angriffe sind intensiver geworden."
Auch Zivilisten werden angegriffen
Assad nennt die Offensive derweil eine "große Entscheidungsschlacht". Ob Zivilist oder Extremist, die Regierungstruppen machen keinen Unterschied: Krankenhäuser werden bombardiert, Erste-Hilfe-Einrichtungen, Märkte. Mittlerweile sollen etwa 100 Krankenhäuser in der gesamten Region gezielt bombardiert worden sein, sagt Küster. Natürlich gebe es noch Krankenhäuser, die in Betrieb seien, und es gebe auch eine über die Jahre etablierte Hilfsstruktur, die auch international unterstützt wird, wie zum Beispiel durch die Vereinten Nationen. "Aber soweit wir das im Blick haben, sind die Strukturen vor Ort komplett überfordert." Das Auswärtige Amt hat die schweren Luftangriffe scharf verurteilt. "Wir sind sehr besorgt über die Intensivierung der Kampfhandlungen in Idlib in den letzten Tagen", teilte eine Sprecherin mit. Die humanitäre Lage sei dort nach wie vor katastrophal.
Alleine am vergangenen Freitag sollen nach Angaben der Vereinten Nationen fast 20.000 Menschen aus der Provinz geflohen sein, Schätzungen zufolge sollen seit Beginn der Offensive 70.000 Menschen ihre Häuser verlassen haben. Insgesamt sind drei Millionen Menschen in Idlib eingekesselt, die meisten von ihnen sind Binnenflüchtlinge. Die Welthungerhilfe, so berichtet Hegmanns, beliefere die in Idlib ansässigen Bäckereien mit Weizen, damit sie Brot backen können. "Noch kommen wir durch", sagt er. Doch wie lange das noch gut geht, sei auch ihnen nicht klar.
Veto verhindert weitere Hilfe
Millionen von Syrern in ganz Syrien sind dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen. Doch davon wollen China und Russland offensichtlich nichts wissen. Sie machten vergangene Woche von ihrem Veto Gebrauch und verhinderten damit die Fortsetzung und die Ausweitung der bestehenden UNO-Hilfsprogramme. Deutschland, Belgien und Kuwait hatten einen Entwurf vorgelegt, der vorsah, bestehende Hilfsprogramme um ein weiteres Jahr zu verlängern und neben den vier vereinbarten Grenzübergängen noch einen fünften für Lieferungen zugänglich zu machen. Russland wollte die Grenzübergänge auf zwei minimieren und das Hilfsprogramm auch nur um sechs Monate verlängern. Die humanitäre Lage habe sich verbessert, hieß es von russischer Seite.
Doch davon kann, wie in Idlib zu sehen ist, keine Rede sein. Nach Angaben von Aktivisten sollen bereits über 100 Menschen bei den Angriffen in den vergangenen Tagen getötet worden sein. Die Zahl steigt. Allein am Dienstag, so heißt es, seien acht Zivilisten durch Bomben getötet worden, darunter fünf Kinder. Einem UN-Bericht zufolge verschlechtert sich die humanitäre Lage insgesamt in Syrien 2019 im Vergleich zum Vorjahr. Hegmanns hofft daher, dass doch noch eine Kompromissformel gefunden wird, mit der sich China und Russland überzeugen lassen.
Im Stich gelassen
Auf Vermittlung der Türkei und Russlands wurde im September 2018 eigentlich eine Waffenruhe vereinbart, doch die Regierung begann bereits im April eine Offensive auf Idlib, die sie seit Anfang Dezember intensiviert. Die junge Video-Journalistin Merna Alhasan fordert in ihren Clips die Menschen in Syrien dazu auf, sich gegenseitig zu helfen. "Hilfe von außen ist nicht zu erwarten, unsere Appelle hat die Welt bis heute überhört." Dass auch viele andere Syrer so empfinden, bestätigt Syrien-Koordinator Till Küster. "Die Menschen merken, dass Europa ihnen nicht zur Hilfe eilen wird; sie auch nicht in Sicherheit bringen wird", sagt er. Sie fühlten sich im Stich gelassen. Derweil könnten Assad und Russland hingegen Fakten schaffen.