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KatastropheEuropa

Infektionen und Krankheiten nehmen zu

16. Februar 2023

Nach dem schweren Erdbeben in der Türkei beklagen die Überlebenden das Fehlen von Sanitäranlagen. Helfer verzeichnen bereits eine Zunahme von Infektionskrankheiten. DW-Reporterin Burcu Karakas berichtet aus Hatay.

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Erdbebenopfer in Hatay stehen frierend vor ihren notdürftig abgedeckten Zelten
Erdbebenopfer in Hatay frieren in ZeltenBild: Burcu Karakas/DW

"Sie haben eine mobile Toilette auf der anderen Straßenseite aufgestellt", sagt Yasemin Astan und zeigt in die Richtung. "Nachts kann man kaum sehen und fast nicht laufen. Wie kann ich meine Kinder hier allein lassen und so weit im Dunkeln gehen, wenn ich mal muss?"

Türkische Stadt Antakya durch Erdbeben zerstört

Die fünffache Mutter lebt in Antakya in der Provinz Hatay, das nach den beiden Erdbeben vergangene Woche schwer verwüstet wurde. Yasemin, ihr Mann Hasan und ihre Kinder konnten gerade noch das Haus verlassen, bevor es vollkommen zerstört wurde. Jetzt wohnen sie in einem der Zelte, die zwei Tage nach dem Beben aufgebaut wurden. Wie unzählige andere aus Hatay, die hier in Antakya vorläufig Zuflucht gefunden haben, beklagen auch sie die fehlende Hygiene.

"Schickt uns wenigstens Müllcontainer"

In dem Zelt, in dem die Familie Astan untergebracht ist, leben derzeit 13 Personen, darunter 9 Kinder. "Ich versuche, wenigstens den Jüngsten hier schlafen zu lassen. Das Zelt ist nicht groß genug, um 13 Personen zu beherbergen", sagt Yasemin Astan.

In diesem nicht winterfesten Zelt wohnen 13 Personen aus zwei Familien
In diesem nicht winterfesten Zelt wohnen 13 Personen aus zwei FamilienBild: Burcu Karakas/DW

Seit mehr als einer Woche ist duschen und Körperpflege für die Erdbebenopfer unmöglich. Doch das ist gar nicht das größte Problem: Es gebe nicht einmal eine richtige Toilette, sagen die Anwohner.

Überall liegt zudem Müll. Ein Mitarbeiter des Ministeriums für Familie und Soziales, den wir in dem Lagerbereich treffen, in dem Familie Astan untergebracht ist, erklärt, dass er sogar in den weit entfernten Städten Nevsehir und Konya angerufen habe, um um Unterstützung bei der Müllbeseitigung zu bitten. "Ich sagte: 'Schickt uns wenigstens Müllcontainer, damit sich der Müll nicht dort ansammelt, wo die Leute herumlaufen.' Natürlich besteht jetzt die akute Gefahr von Krankheiten."

Der Mitarbeiter des Ministeriums zeigt beim Reden auf die mobile Toilette, die gleich hinter uns steht. "Was aus der Toilette kommt, sickert natürlich nach unten. Diese hier ist die einzige weit und breit. Wir haben die Verwaltungen um mindestens 25 mobile Toiletten gebeten." Die Latrine sei so voll, dass Flüssigkeit auslaufe und sich im Zeltbereich ausbreite.

Neben den Zelten, in den die Opfer untergebracht worden sind, liegen viel Müll.
Um die Zelte herum entstehen in Hatay Müllberge Bild: Burcu Karakas/DW

In der Nacht ist die einst so belebte Vielvölkerstadt menschenleer. Vor allem in den völlig zerstörten Vierteln sehen wir außer Soldaten niemanden. Ein Freiwilliger einer Hilfsorganisation sagt: "Es gibt diejenigen, die aus der Stadt evakuiert wurden. Und dann noch die anderen, die jetzt noch in Hatay sind. Die warten entweder auf Beerdigungen oder können nirgendwo hin".

Auch wenn unter den Trümmern immer wieder wie durch ein Wunder Menschen lebend gerettet werden, haben die Offiziellen bereits mit dem Beseitigen des Gerölls und Schutts begonnen. Die Arbeiten sind in vollem Gange. Das führt dazu, dass die Umgebung voller Staub und Dreck ist. Eigentlich sollte jeder hier eine Maske tragen, doch auf den Straßen sieht man kaum jemanden, der eine über dem Mund hat. Ein freiwilliger Helfer aus der Provinz Sakarya erzählt, dass die Hygiene im Moment so schlecht sei, dass man sich kaum erholen könne.

Sauberes Wasser wird dringend gebraucht

In der Kreisstadt Defne der Provinz Hatay hat die Türkische Ärztevereinigung (TTB) einen Container aufgestellt und bietet den Überlebenden medizinische Hilfe an. Jeder, der aus den Trümmern befreit wurde und gesundheitliche Probleme hat, wird hier ärztlich behandelt, eingekleidet und bei Bedarf mit Medikamenten versorgt.

Zwischen den Zelten versuchen die Überlebenden, sich an Öfen zu wärmen
Zwischen den Zelten versuchen die Überlebenden, sich an Öfen zu wärmenBild: Burcu Karakas/DW

Ein Arzt, der anonym bleiben möchte, sagt: "Ich bin seit sechs Tagen hier. Wir reinigen uns mit Feuchttüchern, weil wir keine Möglichkeit haben zu duschen." Ein anderer berichtet, dass das Abwasser der Toiletten direkt in den Fluss Asi abgelassen werde. Dies erhöhe die Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Es müssten dringend Maßnahmen ergriffen werden. "Es gibt zwar Toiletten, aber sie sind nicht sauber und somit eine potenzielle Infektionsquelle. Es ist sehr traurig, aber langsam wird sich zeigen, was wir alle hier befürchten: Infektionen, Durchfallerkrankungen und Fieber. Das Wasser muss hier in der Umgebung schnell gereinigt werden".

Pilzinfektionen haben zugenommen

Der Arzt erzählt, er habe mindestens 250 Patienten behandelt. Mehr als 100 von ihnen hätten an Infektionskrankheiten gelitten. "Wir beobachten, dass  gynäkologische Krankheiten auf dem Vormarsch sind: Vaginalinfektionen bei Frauen, Juckreiz, Pilzinfektionen. Der Grund ist nun mal, dass hier niemand duschen kann." Man verzeichne Durchfallerkrankungen bei Kindern und Fälle von Windelausschlag bei Erwachsenen und Kindern. "Es gibt Menschen, die seit Tagen dieselbe Kleidung anhaben. Natürlich schwitzen sie. Die Folge sind akute Hautausschläge".

Auch  viele Krebspatienten kommen zu den Ärzten. Doch sie müssen weggeschickt werden, denn das Team vor Ort kann die nötigen Medikamente nicht bereitstellen.

Vor dem Krankenhaus erfroren

Viele, die aus den Trümmern gerettet wurden, müssen mit einem weiteren Problem kämpfen: der Kälte. Ein Mediziner der Ärztevereinigung berichtet, in den ersten beiden Tagen nach dem Erdbeben seien viele Menschen an Unterkühlung gestorben. Ein Assistenzarzt des Mustafa-Kemal-Universitätskrankenhauses in Hatay, der am Tag des Erdbebens in der pädiatrischen Notaufnahme arbeitete, hatte schon am Tag des Erdbebens Patienten, die erfroren waren.

Helfer in Schutzkleidung stehen zwischen gewaltigen Schuttbergen im türkischen Hatay
In der südlichsten Provinz Hatay ist die Zerstörung sehr großBild: Clodagh Kilcoyne/REUTERS

"Wir hatten zwei Soldaten mit gebrochenen Beinen. Die orthopädische Abteilung war etwas weiter entfernt und es gab leider keine Trage, um sie ins Krankenhausgebäude zu bringen" berichtet der Arzt. "Ich riss einen Vorhang von einem Fenster, um die beiden zuzudecken. Ich ging ins Gebäude, um etwas zu holen und rannte schnell zurück. Doch die beiden waren bereits tot. An Unterkühlung gestorben."

Während in Hatay immerhin versucht wird, zu helfen, ist die Lage in den umliegenden Dörfern unübersichtlich. Mitglieder einer Gruppe, die mit dem türkischen Roten Halbmond zusammenarbeitet, sind in die Dörfer rund um die Kreisstadt Kirikhan gefahren. Es gebe zwar wenig Schäden in den Dörfern, erzählen sie, aber der Bedarf an Lebensmitteln und Medikamenten sei groß. Vor allem Kinder bräuchten Medikamente. "Selbst wenn wir genug Medikamente hätten, brauchen wir Unterstützung bei der Verteilung. Wir sehen hier ein sehr ernstes organisatorisches Problem. In acht Tagen hätte mehr getan werden können".

"Es werden die notwendigen Maßnahmen gegen mögliche Infektionen ergriffen"

Der türkische Gesundheitsminister Fahrettin Koca betonte unlängst, mobile Apotheken seien im Katastrophengebiet in Betrieb und die Gesundheitsversorgung in den Dörfern werde weiterhin gewährleistet. Es seien Koordinationszentren für das öffentliche Gesundheitswesen eingerichtet worden: "Es werden die notwendigen Maßnahmen gegen Infektionen ergriffen, die nach dem Erdbeben auftreten können. Tollwut- und Tetanusimpfstoffe wurden in die Region geschickt. Unsere Gesundheitszentren unterstützen auch die Versorgung mit Hygienematerial. Ich möchte noch einmal zum Ausdruck bringen, dass das Gesundheitssystem im Katastrophengebiet funktioniert."