Im Zeichen liegt die Kunst
20. Januar 2003Am Anfang war die Dunkelheit. Zumindest auf dem Computerbildschirm. Eine schlichte spitze Klammer und ein blinkender Cursor leuchteten einsam – in grünem Licht vor einem nachtschwarzen Hintergrund. Von Windows hatte noch niemand gehört. In der bilderlosen Zeit der Computerbildschirme behalfen sich die Anwender mit selbstgebastelten visuellen Elementen: Vom schlichten Emoticon - ;-) - bis zu komplexen Zeichnungen von Raumschiffen oder Marylin Monroe.
Ästhetischer Zeichensalat
Blick zurück: Eine handvoll Künstler greift Anfang der 80er Jahre den ästhetischen Reiz der reduzierten Darstellung auf. Während die meisten Computeranwender stolz den Grundrechenarten frönen oder Geschäftsbriefe verfassen, erschaffen sie eine völlig neue digitale Kunstgattung. Ehemalige Videokünstler kreieren dabei wirre Welten aus Zeichensalat. Tastatur-Akrobaten machen sich an die Neuinterpretation von ein paar hundert Jahren abendländischer Malerei – ausgerüstet mit dem Zeichenvorrat einer gewöhnlichen amerikanischen Schreibmaschine.
Mit "ASCII-Art" ist schnell ein Name für derlei Schriftbilder gefunden. Hinter ASCII verbirgt sich ein 1963 vom American National Standards Institute (ANSI) eingeführter Zeichenstandard. Eine genormte Sammlung von 128 Buchstaben und Sonderzeichen, die sich auf jeder Computertastatur finden und von jedem Rechner verstanden werden.
Drei Meter Tradition
Mittlerweile blickt die "ASCII"-Kunst auf eine knapp 20jährige Geschichte zurück. Und obwohl jedes seither entstandene Zeichen-Kunstwerk auf jedem Computer der Welt gezeigt werden kann, tun sich die meisten Betrachter immer noch schwer. Die Kunstgattung führt ein Nischendasein, weitgehend ignoriert von der Kunstwelt.
"Irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder", verteidigt Vuk Cosic, einer der ambitioniertesten Vertreter der "ASCII"-Kunst seine Kunstauffassung auf der Internetsite "telepolis". Cosic, ehemaliger Kulturmanager, will zur Hinterfragung konventioneller Rezeptionsgewohnheiten anregen. Und sieht sich und seinesgleichen dabei in der Tradition von Konzeptkünstlern wie Marcel Duchamp oder Joseph Beuys.
Der Reiz von Cosic's Arbeiten, die im Internet gezeigt und diskutiert werden, liegt wie bei seinen Vorbildern, in einem verunsichernden Moment für den Betrachter. Zum Beispiel beim Anschauen eines kommerziellen Hollywood-Films, der komplett aus sich bewegenden Buchstaben und Zeichen nachgebaut wurde. Fast drei Meter muss man vom Bildschirm zurücktreten, um im Wust der grünen Zeichen auch nur annähernd der Handlung zu folgen.
Expressive Malerei mit MS-DOS
Für die Initiatoren einer "ASCII-Art"-Ausstellung in Berlin steht Cosic's Kunst mit den Schriftbildern "in einer kunstgeschichtlichen Tradition der Auseinandersetzung von Zeichen und Bild". Die Studenten der Kunstgeschichte, die im Rahmen eines Projkettutoriums zahlreiche digitale Werke ausgestellt haben, klassifizieren "ASCII-Art als ein Stilmittel wie expressive Malerei".
Eine Malerei für die man weder Pinsel noch Staffelei benötigt. Einfach den heimischen Rechner runterfahren und im klassischen MS-DOS-Modus starten. Drauflos tippen, ohne Rücksicht auf Verluste. Oder um mit den Worten des französischen Konzeptkünstlers Yves Klein zu sprechen: "Jeder ist ein Künstler".