"Botschaft gegen den Populismus"
29. Juli 2019Deutsche Welle: Die islamisch-konservative AKP von Präsident Erdogan hatte vor ihrem Wahlsieg rund ein Vierteljahrhundert das Sagen in Istanbul. Als Sie Ihre Kandidatur angekündigt haben, gab es nur wenige, die der Opposition einen Sieg zugetraut hätten. Was hat bei der Wahl den Ausschlag gegeben?
Ekrem Imamoglu: Wir alle haben fest daran geglaubt, dass wir die Öffentlichkeit von uns überzeugen könnten. Wir wussten, wie wir gewinnen können, weil wir unser Ohr an der Straße hatten. Wir hatten ein Gefühl dafür, was die Leute denken, fühlen, brauchen. Mein persönlicher Lebensweg hat mir dabei viel geholfen: Ich habe fünf Jahre lang Erfahrungen als Stadtteilbürgermeister von Beylikdüzü sammeln können. Beylikdüzü ist ein Stadtteil auf der europäischen Seite von Istanbul an der Küste zum Marmarameer. Mit 350.000 Einwohnern ist er zwar bei Weitem keine Metropole, dennoch wusste ich, was die Leute bewegt. Dieses Wissen konnte ich in den Wahlkampf einfließen lassen.
Nochmal zur Erinnerung: Die erste Runde der Bürgermeisterwahl in Istanbul hat am 31. März 2019 stattgefunden. Sie gewannen die Wahl denkbar knapp, im Anschluss wurde die Wahl durch eine Entscheidung des Hohen Wahlausschusses (YSK) annulliert und am 23. Juni 2019 wiederholt. Beim zweiten Anlauf stimmten rund 800.000 Menschen mehr für Sie als für Ihren Gegenkandidaten von der AKP. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 84 Prozent. Was hat die Wähler an die Wahlurnen getrieben?
Ich glaube, dass es eine ganze Reihe von Gründen dafür gab. Zum einen haben die Menschen wirklich daran geglaubt, dass sie etwas verändern können, wenn sie zur Wahl gehen und sich in einem demokratischen Prozess engagieren. Nach der Annullierung der ersten Wahl hat zudem sich ein regelrechter Sinn für Gerechtigkeit in der Gesellschaft entwickelt. Drittens wollten die Leute Haltung beweisen und demokratiefeindlichen Strömungen die Stirn bieten. All diese Gründe haben meiner Meinung nach den Ausschlag gegeben. Hinzu kommt: Selbstverständlich hatten wir nach den ersten Wahlen auch eine Basis, auf die wir aufbauen konnten. Ehrlich gesagt, hätte ich sogar ein noch besseres Ergebnis erwartet (lacht).
In einer Zeit der zunehmenden Polarisierung haben Sie als Kandidat der kemalistischen CHP Stimmen aus den unterschiedlichsten politischen Lagern erhalten. An Ihrem Erfolg hat wohl auch Ihr persönlicher Lebenswandel Anteil: Sie sind ein religiöser Mann, der einen säkularen Lebensstil pflegt und am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, für die Rechte der Arbeitnehmer auf die Straße geht. Aus diesem Grund wird Ihnen von politischen Gegnern politische Wankelmütigkeit vorgeworfen. "Sie selbst" seien das einzige Programm. Wie würden Sie selbst ihre politische Einstellung definieren?
Ist es nicht wunderbar, dass ich selbst mein eigenes Programm bin? Ich kann Ihnen gerne auch eine Begründung dafür liefern, warum das so toll ist (lacht): Bei der Einschätzung politischer Gegebenheiten konzentriere ich mich zuallererst auf die Fakten. Es gibt niemandem, dem ich ideologisch folge. Wenn es darum geht, die Rechte eines Arbeiters zu verteidigen, mache ich das. Wenn ich meine Spiritualität leben möchte, ist das meine ganze private Entscheidung. Ich denke, dass ein großer Teil der Öffentlichkeit gesehen hat, dass ich ein aufrichtiger Mensch bin. Ich lebe mein Leben wie ein Großteil der Menschen dieses Landes. Diejenigen, die versuchen, aus bestimmten Lebenseinstellungen politische Programme zu entwickeln, werden so eine Haltung allerdings wohl nie verstehen können.
Recep Tayyip Erdogan wird das Zitat zugeschrieben: "Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei." Steht Ihre Wahl zum Oberbürgermeister der größten Stadt des Landes symbolisch für einen politischen Neuanfang für die gesamte Türkei?
Diese Wahlen sind sicherlich ein wichtiger Meilenstein gewesen. Dies kann jedoch nur der Anfang eines langen Prozesses sein. Um wirklich langfristig durchschlagenden Erfolg haben zu können, müssen wir uns bewusst sein, dass wir als Opposition vor allem auf lokaler und kommunaler Ebene erfolgreich sein müssen.
Generell geht dieser Erfolg für mich über die Grenzen der Türkei hinaus. Denn die Botschaft, die hinter diesem Erfolg steht, ist eine Botschaft gegen den weltweiten Populismus. Eine Person, die sich über das Gesetz stellt, ist zu jeder Zeit und an jedem Ort ein Problem für jedes Land dieser Erde. Dies gilt für jedes politische System. Allerdings muss ich sagen, dass mein Vertrauen in die Demokratie in der Türkei zu jeder Zeit ungebrochen war.
Durch die Wahl zum Bürgermeister haben Sie in der gesamten Türkei eine Welle der Begeisterung ausgelöst. Viele Menschen setzen ihre Erwartungen darauf, dass Ihnen das Amt des Bürgermeisters nicht ausreicht. Streben Sie an, auch bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2023 anzutreten und zu gewinnen?
Grundsätzlich bin ich kein Fan des Personenkultes in der Politik. Darüber hinaus ist das Einzige, woran ich derzeit interessiert bin, Istanbul als Oberbürgermeister in eine erfolgreiche Zukunft zu führen. Ein prosperierendes Istanbul ist auch gut für eine prosperierende Türkei.
Ekrem Imamoglu ist ein türkischer Politiker der Republikanischen Volkspartei (CHP). Er wurde am 23. Juni 2019 zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt und trat das Amt am 27. Juni 2019 an.
Das Interview führte Bülent Mumay