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Immer mehr Russen rufen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an

12. Januar 2006

Olga Chernichova, Mitarbeiterin des Sekretariats des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, berichtet im Gespräch mit DW-RADIO, welche Beschwerden russischer Bürger in Straßburg eingehen.

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EuGH: Jährlich wächst die Zahl der Klagen gegen Russland um 20%Bild: AP

DW-RADIO/Russisch. Frau Chernichova, zu ihren Aufgaben gehört der Schriftverkehr mit den Klägern. Sie erstellen vollständige Dossiers zu jeder einzelnen Beschwerde, die beim Straßburger Gericht gegen Russland eingereicht wird. Um wie viele Beschwerden handelt es sich?

Olga Chernichova: Die Russische Föderation hat die Europäische Konvention im Mai 1998 anerkannt. Seitdem können sich russische Staatsbürger an den Europäischen Gerichtshof mit Beschwerden gegen Menschenrechtsverstöße wenden, was die Konvention garantiert. Von Mai 1998 bis Oktober 2005 wurden gegen Russland mehr als 24.000 Beschwerden eingereicht. Die Anzahl der Beschwerden gegen Russland nimmt ständig zu, jedes Jahr durchschnittlich um 20 Prozent. Heute ist Russland unter den 46 Mitgliedsstaaten das Land mit den meisten Beschwerden, die jährlich beim Europäischen Gerichtshof eingehen.

Worüber beschweren sich die Russen am häufigsten?

Bis heute hat der Gerichtshof mehr als 15.000 Beschwerden aus der Russischen Föderation abgelehnt. Beantragt wird meist eine Revision von Urteilen russischer Gerichte, weil die Menschen mit ihnen unzufrieden sind. Sie wenden sich an den Europäischen Gerichtshof wie an eine höhere Instanz. Solche Beschwerden lehnt das Gericht ab. Es gibt sehr viele Beschwerden zu sozialen und wirtschaftlichen Rechten, die von der Konvention nicht garantiert werden, beispielsweise Rechte, die Rentenzahlungen, Sozialleistungen oder die Bereitstellung von Wohnraum betreffen. Es gibt etwa 100 Beschwerden, zu denen der Gerichtshof eine Entscheidung getroffen hat. Etwa weitere 100 Beschwerden wurden vom Gerichtshof angenommen, das heißt, dass man diese Fälle genau prüft. Hier kann man mehrere Gruppen unterscheiden. Die größte Gruppe, mehr als die Hälfte, sind Fälle, in denen sich die Kläger darüber beschweren, dass Urteile russischer Gerichte von den Behörden nicht umgesetzt werden. Das sind beispielsweise Urteile im Zusammenhang mit ausstehenden Rentenzahlungen oder Sozialleistungen, wo ein Gerichtsurteil vorliegt, das bestätigt, dass das Geld ausgezahlt werden muss, aber die Behörden das Urteil über lange Zeit nicht umsetzen. Die anderen Gruppen sind kleiner. Es gibt mehrer Fälle, in denen es um die Länge von Gerichtsverfahren geht, vor allem in Strafsachen. In machen Fällen dauern die Prüfungsverfahren bis zu sieben Jahre. Aus Sicht des Europäischen Gerichtshofs ist das unzulässig.

Setzt Russland die Urteile des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fristgerecht um?

Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen von der Russischen Föderation, wie auch von allen anderen Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Die Frist beträgt in der Regel drei Monate nach Inkrafttreten des Urteils. Bis heute wurden die Urteile immer fristgerecht umgesetzt.

Wie viele Beschwerden liegen von Menschen aus Tschetscheniens vor?

Bis heute wurden etwa 200 einzelne Beschwerden von Einwohnern Tschetscheniens eingereicht, die mit den Ereignissen in der Tschetschenischen Republik zusammenhängen. Die Beschwerden betreffen ernsthafte Menschenrechtsverstöße - Todesfälle oder Verwundungen von Angehörigen der Kläger, oder eigene Verletzungen, die auf das Vorgehen der föderalen Behörden zurückzuführen sind. In sechs Fällen wurden im Februar 2005 Urteile gefällt. In diesem Fällen wurden Verstöße gegen das Recht auf Leben, auf Eigentum, auf eine effektive rechtliche Verteidigung anerkannt, weil keine effektiven Ermittlungen im Lande selbst durchgeführt wurden. Etwa ein Dutzend Fälle wurden angenommen, die das spurlose Verschwinden von Menschen betreffen, wenn Menschen verhaftet oder entführt werden, von staatlichen Strukturen, wie sie behaupten, und von ihnen keine Nachricht mehr kommt.

Sergej Wilhelm

DW-RADIO/Russisch, 6.1.2006, Fokus Ost-Südost