Indien-Pakistan: Annäherung in der Krise?
12. Oktober 2005In Muzaffarabad, der Hauptstadt des pakistanisch kontrollierten Teils Kaschmirs mit 100.000 Einwohnern, steht kaum noch ein Stein auf dem anderen. 10.000 Menschen könnten hier ihr Leben verloren haben. Die Strom- und Wasserversorgung ist zusammengebrochen. Lebensmittel werden knapp; die NATO richtete eine Luftbrücke in die Krisenregion ein. Auch im indisch kontrollierten Teil Kaschmirs hat das Beben vom Samstag (8.10.2005) schwere Schäden angerichtet. Hier bestätigten die Behörden etwa 1.000 Todesopfer. Die pakistanische Zeitung "The News" titelte bereits, dass das Erdbeben keine Grenzen respektiert habe. "Indien, Pakistan vereint im Kummer" - war die Schlagzeile der indischen "Times of India". Kaschmir ist seit 1947, als Indien die Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft erreichte und Pakistan abgespalten wurde, der Zankapfel der beiden Atommächte.
Der Südasienexperte Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin glaubt, dass das Beben eine weitere Annäherung zwischen Indien und Pakistan mit sich bringen könnte, indem der Handel erleichtert und Materialien, die zum Wiederaufbau gebraucht werden, über die Kontrolllinie in Kaschmir in den jeweils anderen Teil gebracht werden.
Region mit hohem Symbolwert
Den Kaschmirern brachte die überraschende Aufnahme von Friedensgesprächen zwischen Indien und Pakistan Anfang 2004 viele Erleichterungen in ihrem Alltag. Erst im Februar 2005 wurde die Einrichtung einer Buslinie beschlossen, die die Hauptstadt des indisch kontrollierten Teils Srinagar mit Muzaffarabad, der Hauptstadt des pakistanisch kontrollierten Teils verbindet. Dennoch gibt es bis heute noch keine Möglichkeit, zwischen beiden Teilen Kaschmirs Post zu verschicken oder zu telefonieren. Und beide Staaten wollen ihren Anspruch auf die Region nicht aufgeben.
Für Neu-Delhi ist das indische Kaschmir ein integraler Bestandteil der Nation, die Region hat vor allem einen hohen symbolischen Charakter. Auch Islamabad zeigt sich unversöhnlich. Dennoch zeigt sich SWP-Experte Wagner optimistisch. Anders als in Sri Lanka, wo viele die leise Hoffnung hegten, dass es nach der Tsunami-Katastrophe im vergangenen Jahr zwischen den Tamilen-Rebellen im Norden des Landes und der Regierung zu einer Annäherung kommen könnte, seien die Voraussetzungen zwischen Indien und Pakistan für eine weitere Annäherung viel besser.
"In Sri Lanka war der Friedensprozess vor dem Tsunami in eine Sackgasse geraten. Der Tsunami hat eigentlich nichts dazu beigetragen, diesen Friedensprozess wieder neu zu beleben. Zwischen Indien und Pakistan, in der Kaschmir-Region, haben wir aber diese Annäherung", sagt Wagner und fügt hinzu: "Wir haben eine Ausweitung der bilateralen Beziehungen seit einigen Monaten. Beide Staaten sprechen heute viel stärker als früher über wirtschaftliche Zusammenarbeit, über Reiseerleichterungen für die Menschen. Es gibt hier also eine Reihe von neuen Kooperationsmöglichkeiten."
Erste Anzeichen der Annäherung
Schon jetzt rücken Indien und Pakistan durch das Erdbeben näher zusammen. Das erste Transportflugzeug der indischen Luftwaffe machte sich bereits mit 25 Tonnen Hilfsgütern an Bord auf den Weg - ein fast historisches Ereignis. Vor allem Decken, Medikamente und Nahrungsmittel werden nach Pakistan gebracht.
Zuvor hatte Pakistan gemeinsame Rettungsaktionen mit Indien in der hochsensiblen Region Kaschmir ausgeschlossen - auch wenn der indische Premierminister Manmohan Singh Pakistan "jedwede" Hilfe angeboten hatte. Die pakistanische Seite hatte ebenfalls ein offizielles Hilfsangebot für die vom Beben im indisch kontrollierten Teil Kaschmirs betroffenen Gebiete gemacht. Nach Ansicht des ehemaligen indischen Außenministers Maharaj Krishna Rasgotra sind die Hilfsangebote beider Seiten vor allem symbolischer Natur. Ob und in welcher Form die Hilfe angenommen werde, sei dabei nebensächlich, so Rasgotra. "Es war unsere Pflicht, diese Hilfe anzubieten, da es ja ein Nachbarland von uns ist. Aber ob Pakistan diese Hilfe nun annimmt oder eben nicht, darauf sollten wir nicht beleidigt reagieren."
Hilfsgüter ja, aber kein Einsatz indischer Soldaten und Helfer auf pakistanischem Gebiet - diese Reaktion Pakistans kam für Wagner nicht überraschend. Für Pakistan wäre es aus seinem Sicherheitsverständnis heraus wohl kaum vorstellbar, Massen indischer Truppen und Helfer nach Kaschmir zu lassen, so Wagner. "Zudem beschuldigen die Inder Pakistan immer, dass es im pakistanischen Teil Kaschmirs Lager von militanten Gruppen gibt, die im indischen Teil Anschläge durchführen." Ob und wie Nothilfe geleistet wird, das ist für Christian Wagner nicht das Entscheidende. Viel wichtiger sei der langfristige Wiederaufbau der zerstörten Gebiete über die nächsten Jahre, durch den der Friedensprozess einen neuen Schub bekommen könnte. Und der könnte in Kaschmir die Kontrolllinie noch durchlässiger machen.